Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für einen Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Hat der arbeitsuchende Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat bereits eine Erwerbstätigkeit ausgeübt und den Nachweis einer tatsächlichen Verbindung zum Arbeitsmarkt geführt, so ist der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 in einem solchen Fall mit Europarecht nicht vereinbar.
2. In der Rechtsprechung der Landessozialgerichte wird diese Auslegung nicht ausnahmslos vertreten. Kann dementsprechend die Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 mit Europarecht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend geklärt werden, so fällt die zu treffende Folgenabwägung wegen des verfassungsrechtlich zu sichernden Existenzminimums zugunsten des hilfebedürftigen Antragstellers aus.
Normenkette
SGB I § 30 Abs. 3 S. 2, § 37; SGB II § 7 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 2, § 8 Abs. 1, § 2 S. 1, § 9 Abs. 1, § 24 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 1; FreizügG/EU § 2 Abs. 2-3; AsylbLG § 1; VO (EG) 883/2004 Art. 3 Abs. 1, 3, Art. 4, 70; RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 1bc, Art. 12 Abs. 2, Art. 14 Abs. 1, 4b, Art. 24 Abs. 2; AEUV Art. 18, 45 Abs. 2
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 10. April 2015 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Nr. 1. des Tenors des Beschlusses des Sozialgerichts nach den Worten "in gesetzlicher Höhe" wie folgt ergänzt wird: "einschließlich der auf die Antragstellerin entfallenden anteiligen Kosten der Unterkunft und Heizung".
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt von dem Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Die 1966 geborene Antragstellerin ist griechische Staatsangehörige. Nach ihren Angaben hält sie sich seit März 2014 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Seit dem 10. Juli 2014 war sie bei der Firma C. Personal Management GmbH in A-Stadt beschäftigt.
Am 17. Juli 2014 beantragte die Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II bei dem Antragsgegner. Mit Bescheid vom 6. November 2014 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin vorläufig ergänzende Leistungen nach dem SGB II.
Seit dem 12. Januar 2015 war die Antragstellerin krankgeschrieben. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis am 16. Januar 2015 aus wichtigem Grund fristlos, ersatzweise fristgerecht zum 15. Februar 2015. Zu den Gründen der Kündigung teilte die Arbeitgeberin dem Antragsgegner mit, die Antragstellerin sei bei einem ihrer Kunden in der Produktion beschäftigt gewesen. Am 12. Januar 2015 sei sie nicht zur Arbeit erschienen. Sie habe sich weder bei der Arbeitgeberin noch bei dem Kunden gemeldet. Man habe mehrmals versucht, sie telefonisch zu erreichen, doch ihr Handy sei ausgeschaltet gewesen. Daraufhin sei sie am 12. Januar 2015 und am 14. Januar 2015 wegen unentschuldigten Fehlens abgemahnt und dann fristlos gekündigt worden. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung habe der Arbeitgeberin zu keinem Zeitpunkt vorgelegen. Die Antragstellerin hat eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ihrer behandelnden Ärztin vom 12. Januar 2015 vorgelegt, wonach sie vom 12. Januar 2015 bis voraussichtlich 23. Januar 2015 arbeitsunfähig erkrankt sei.
Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 4. Februar 2015 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin mit Bescheid vom 9. Februar 2015 Leistungen nur für den Monat Februar 2015; im Übrigen lehnte der Antragsgegner den Antrag ab, da die gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Leistungen für die Zukunft nicht mehr vorlägen, denn die Antragstellerin habe lediglich ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland. Den dagegen am 19. Februar 2015 erhobenen Widerspruch wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 2015 zurück.
Die Antragstellerin hat am 27. März 2015 beim Sozialgericht Darmstadt Klage erhoben (S 27 AS 319/15) und am 2. April 2015 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.
Mit Beschluss vom 10. April 2015 hat das Sozialgericht den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vom 2. April 2015 bis zum 30. Juni 2015 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, die Antragstellerin habe einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Frage, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Rahmen des hier eröffneten Schutzbereichs des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) anwendbar sei, sei in der Rechtsprechung nicht abschließend geklärt. Es sei daher eine Entscheidung aufgrund einer Folgenabwägung vorzunehmen, die sich an den Auswirkungen für die Beteili...