Entscheidungsstichwort (Thema)

Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Entziehung der Leistungen wegen fehlender Mitwirkung. keine sofortige Vollziehbarkeit. Abgrenzung von Aufhebung, Rücknahme oder Widerruf. kein Wegfall der aufschiebenden Wirkung. Ermessensausübung bei § 66 Abs 1 S. 1 SGB 1

 

Leitsatz (amtlich)

Der Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt, mit dem bestandskräftig bewilligte laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende mangels Mitwirkung entzogen werden, entfaltet aufschiebende Wirkung.

 

Orientierungssatz

Das Ermessen des § 66 Abs 1 S 1 SGB 1 wird begrenzt durch den Zweck, die Aufklärung des Sachverhalts in einem konkreten Sozialverwaltungsverfahren mit Bezug zur Bewilligung oder Aufhebung einer Sozialleistung bzw eines entsprechenden Bescheides zu fördern. Im Falle der Entziehung einer bereits bewilligten Leistung kann dies nur ein Verwaltungsverfahren nach §§ 45 ff SGB 10 sein, dh die Behörde muss erste Anhaltspunkte dafür haben, die Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts in Richtung einer Aufhebungsentscheidung nahe legen.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 5. Oktober 2011 aufgehoben und festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers vom 5. September 2011 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 30. August 2011 aufschiebende Wirkung hat.

Im Wege der Anordnung der Aufhebung der Vollziehung wird die Antragsgegnerin verpflichtet, dem Antragsteller die mit Bescheid vom 20. Juni 2011 bewilligten Leistungen ab 1. Oktober 2011 nachzuzahlen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller dessen außergerichtliche Kosten beider Instanzen zu erstatten.

Dem Antragsteller wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., B-Stadt, Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für den Beschwerderechtszug ab 26. Oktober 2011 bewilligt.

 

Gründe

Die am 26. Oktober 2011 erhobene Beschwerde des Antragstellers, mit der er sinngemäß beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 5. Oktober 2011 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid vom 30. August 2011 anzuordnen,

ist zulässig und begründet.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts war die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs festzustellen, mit dem sich der Antragsteller gegen die Entziehung von bereits bewilligten Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) wendet.

Der Antrag ist nach Umdeutung in einen Feststellungsantrag zulässig. Er ist nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, da Widerspruch und Klage gegen einen Entziehungsbescheid nach § 66 Abs. 1 Satz 1 2. Var. Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil (SGB I) aufschiebende Wirkung entfalten, die Antragsgegnerin den Sofortvollzug nicht angeordnet hat und sich die Antragsgegnerin der Vollziehbarkeit berühmt.

Die Vollziehbarkeit entfällt nicht nach § 39 Nr. 1 SGB II. Nach § 39 Nr. 1 SGB II in der seit 1. April 2011 geltenden Fassung haben “Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, 1. der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, zurücknimmt, widerruft, die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten erwerbsfähiger Leistungsberechtigter bei der Eingliederung in Arbeit regelt,„ keine aufschiebende Wirkung.

Bereits nach der seit 2009 geltenden Vorläuferregelung hatte sich die Auffassung weitgehend durchgesetzt, dass Widerspruch und Anfechtungsklage gegen eine Versagung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 1.Var. SGB I aufschiebende Wirkung entfalten (vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 27. Dezember 2010 - L 9 AS 612/10 B ER - juris; Beschluss vom 22. Juni 2011 - L 7 AS 700/10 B ER - juris; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. April 2010, L 7 AS 304/10 ER-B - juris - m.w.N.; LSG Saarland, Beschluss vom 2. Mai 2011, L 9 AS 9/11 B ER; Groth in: GK-SGB II, § 39 Rn. 25; Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB II, K § 39 Rn. 75; a. A.: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 8. März 2010, L 13 AS 34/10 B ER - juris). Die Versagung von Leistungen gemäß § 66 SGB I als Folge mangelnder Mitwirkung wird von der Regelung schon dem Wortlaut nach nicht erfasst; die für die Rechtsfolge des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung vorgesehenen Fallvarianten sind enumerativ und abschließend - nicht etwa exemplarisch - aufgezählt (vgl. auch zum Folgenden Hessisches LSG, Beschluss vom 27. Dezember 2010 a.a.O.). Eine entsprechende und damit den Geltungsbereich ausdehnende Anwendung der Regelung auf den Tatbestand von Widerspruch und Klage gegen die vollständige Versagung von Leistungen wegen Verletzung von Mitwirkungspflichten begegnet schon angesichts des Ausnahmecharakters der Regelung und der gleichzeitig durch den Regelungsgehalt bewirkten Beschneidung von Rechten der eingangs (zumindest formal) berechtigten Leistungsempfänger gravierenden Bedenken. Zudem ist die Versagung nach § 66 SGB I n...

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