Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen für die Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen innerhalb der 30-jährigen Verjährungsfrist; Bedingter Vorsatz des Arbeitgebers bei Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Tarifunfähigkeit einer Tarifvertragspartei. Keine entgegenstehende Bestandskraft bereits ergangener Betriebsprüfungsbescheide bei erneuter Beitragsnachforderung aufgrund anderen Prüfgegenstands
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen ist innerhalb der 30-jährigen Verjährungsfrist des § 25 Abs. 2 S. 2 SGB IV möglich, wenn dem Beitragspflichtigen innerhalb der 4-jährigen Verjährungsfrist zumindest eine billigende Inkaufnahme des Vorenthaltens der Beiträge vorzuwerfen ist. Es ist davon auszugehen, dass ein Arbeitgeber wegen der mit der Feststellung einer Tarifunfähigkeit einer Tarifvertragspartei verbundenen Folgen hinsichtlich seiner arbeitsvertraglichen und sozialversicherungsrechtlichen Pflichten bereits von der mit Einleitung des Verfahrens zur Feststellung der Tarifunfähigkeit beginnenden Diskussion und damit schon vor Veröffentlichung der arbeitsgerichtlichen Entscheidung Kenntnis hatte. Zumindest im Rahmen der summarischen Prüfung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren bestehen in diesem Fall im Hinblick auf die Geltung der 30-jährigen Verjährungsfrist keine durchschlagenden Zweifel.
2. Die Bestandskraft bereits ergangener Betriebsprüfungsbescheide steht einer erneuten Beitragsnachforderung für den gleichen Prüfzeitraum nicht entgegen, wenn weder der Prüfungsgegenstand noch das Prüfungsthema der Betriebsprüfungsbescheide identisch sind. Die Frage der Aufhebung eines Betriebsprüfungsbescheids nach § 45 SGB X stellt sich in einem solchen Fall nicht.
Normenkette
SGB IV §§ 28p, 25 Abs. 1 S. 2; SGB X § 45
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 26. April 2012 abgeändert und der Antrag der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 2. März 2012 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Februar 2012 anzuordnen, insgesamt abgelehnt.
Die Anschlussbeschwerde der Antragstellerin wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Der Streitwert wird auf 17.209,56 € festgesetzt.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Beitragsbescheid der Antragsgegnerin vom 20. Februar 2012 streitig.
Die Antragstellerin ist im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) tätig und im Besitz einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis nach § 1 AÜG. In den Arbeitsverträgen der für die Antragstellerin tätigen Leiharbeitnehmer wurden ab 1. Dezember 2005 auf den Entgelttarifvertrag West der Tarifgemeinschaft XY. (XY.) verwiesen. Auf dieser Basis führte die Antragstellerin Beiträge zur Sozialversicherung ab.
Auf der Grundlage von Betriebsprüfungen nach § 28 p Abs. 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) setzte die Antragsgegnerin mit bestandskräftigen Bescheid vom 21. Juni 2007 (Prüf-Zeitraum vom 1. Januar 2003 bis zum 31. Dezember 2006) und mit bestandskräftigen Bescheid vom 8. November 2011 (Prüf-Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2010) Beitragsnachforderungen gegen die Antragstellerin fest.
Nachdem das Bundesarbeitsgericht mit Beschluss vom 14. Dezember 2010 (Az. 1 ABR 19/10) die Tarifunfähigkeit der XY. festgestellt hatte, setzte die Antragsgegnerin nach einer erneuten Betriebsprüfung gemäß 28 p Abs. 1 SGB IV (vom 7. November 2011 bis zum 24. Januar 2012) mit Beitragsbescheid vom 20. Februar 2012 für den Prüfzeitraum vom 1. Dezember 2005 bis zum 31. Dezember 2009 eine zusätzliche Beitragsnachforderung in Höhe von 68.838,22 € fest. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin aus, die Beitragsnachforderung ergebe sich aus einer sozialversicherungsrechtlichen Umsetzung der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts. Dies ergebe sich daraus, dass seit dem 1. Januar 2004 in § 10 Abs. 4 AÜG für den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung der Grundsatz des "equal pay" (gleicher Lohn für gleiche Arbeit) und das Gebot "equal treatment" (gleiche Arbeitsbedingungen) im Gesetz geregelt seien. Arbeitsbedingungen, insbesondere die Entlohnung der Leiharbeitnehmer, richteten sich nach dem, was für die Stamm-Belegschaft des Entleihers gelte. Nach § 9 Nr. 2 AÜG sei jedoch eine Ausnahme von dem gesetzlichen Gleichbehandlungsgebot für den Fall möglich, dass ein Tarifvertrag, der die Entlohnung der Leiharbeitnehmer regele, abweichende Regelungen zulasse. In diesem Fall könne von dem Gleichbehandlungsgrundsatz auch zum Nachteil der Leiharbeitnehmer abgewichen werden. Dies gelte auch, wenn die Geltung von Tarifverträgen arbeitsvertraglich vereinbart worden sei. Im Oktober 2008 sei die Feststellung der Tarifunfähigkeit der XY. vor dem Arbeitsgericht Berlin eingeleitet worden und mit Beschluss vom 1. April 2009 (Az. 35 BV 17008/08) habe dieses Arbeit...