Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf. unabweisbarer laufender besonderer Bedarf. Kontaktlinsen. Bedarfsdeckung vor Beginn des Bewilligungszeitraums. laufende Ratenzahlungen. medizinische Notwendigkeit. Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Hinweis- und Beratungspflichten der Krankenkasse. verfassungskonforme Auslegung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Es besteht kein Anspruch auf Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs 6 SGB II aF, wenn die Kosten durch die Versorgung mit Kontaktlinsen vor Beginn des maßgeblichen Bewilligungszeitraums gedeckt worden sind. Das gilt auch, wenn die Versorgung nicht durch eine Einmalzahlung, sondern durch laufende Ratenzahlungen im Bewilligungszeitraum erfolgte.

2. Ist die Versorgung mit Kontaktlinsen medizinisch notwendig, und ist diese Leistung weder nach § 33 Abs 2 SGB V noch nach § 2 Abs 1a SGB V vom Leistungskatalog umfasst, sind die Kosten nach § 21 Abs 6 SGB II aF zu übernehmen. Die Leistungsberechtigten können nicht auf einen Anspruch auf verfassungskonforme Versorgung nach dem SGB V verwiesen werden. Eine solche Verweisung setzt einen entsprechenden Hinweis, Aufklärung oder Beratung des Jobcenters voraus.

3. Ist die Versorgung mit Kontaktlinsen medizinisch notwendig und ist diese Leistung nach § 33 Abs 2 SGB V vom Leistungskatalog umfasst, sind die Kosten nach § 21 Abs 6 SGB II aF zu übernehmen, soweit die Kosten über eine Festbetragsversorgung hinausgehen. Die Leistungsberechtigten können nicht darauf verwiesen werden, dass einen Anspruch über die Festbeträge hinaus nach dem SGB V bestehe. Eine solche Verweisung setzt einen entsprechenden Hinweis, Aufklärung oder Beratung des Jobcenters voraus.

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 24. Juni 2019 abgeändert. Der Beklagte wird unter Abänderung seines Überprüfungsbescheides vom 1. Dezember 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. März 2017 verpflichtet, seinen Bescheid vom 1. September 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2016, geändert durch die Bescheide vom 26. November 2016, 4. Januar 2017 und 7. Juni 2017 teilweise zurückzunehmen, und verurteilt, der Klägerin höheres Arbeitslosengeld II unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für die Versorgung mit Kontaktlinsen für die Monate Februar 2017 bis Juni 2017 in Höhe von monatlich 66,00 € und für die Monate Juli 2017 bis September 2017 in Höhe von monatlich 50,36 € zu gewähren. Die darüber hinausgehende Klage wird abgewiesen.

Im Übrigen wird die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten, ob die Kosten für ein Kontaktlinsen-Abo der Klägerin in Höhe von monatlich 66,00 bzw. 68,00 Euro in der Zeit vom 01.10.2016 bis 30.09.2017 vom Beklagten zu übernehmen sind.

Die 1957 geborene Klägerin steht im Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) bei dem Beklagten.

Die Klägerin beantragte am 31.08.2016 die Weitergewährung der Leistungen (Bl. 186 Verwaltungsakte (VA)). Die Klägerin entrichtete einen Mietzins einschließlich der Nebenkosten in Höhe von 457,39 Euro (Bl. 196, 245 VA). Aus dem Antrag beigefügten Unterlagen ergibt sich, dass die Klägerin bis zum 04.05.2017 monatliche Abschlagszahlungen für Gas in Höhe von 56 Euro schuldete (Bl. 188 VA).

Der Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 01.09.2016 für die Zeit vom 01.10.2016 bis zum 31.05.2017 Leistungen in Höhe von insgesamt monatlich 917,39 Euro (Bl. 206 f. VA). Hierbei berücksichtigte der Beklagte monatlich die Regelleistung in Höhe von 404 Euro, Kosten der Unterkunft in Höhe von 457,39 Euro sowie Heizkosten von 57 Euro (Bl. 212 VA). Für die Monate 01.06.2017 bis 30.09.2017 bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen in Höhe von monatlich insgesamt 861,39 Euro. Hierbei wurden der Klägerin monatlich die Regelleistung in Höhe von 404 Euro, Kosten der Unterkunft in Höhe von 457,39 Euro ohne Heizkosten bewilligt (Bl. 211 VA).

Die Klägerin legte mit Schreiben vom 05.09.2016 Widerspruch gegen den Bescheid ein und begehrte die Bewilligung weiterer Heizkosten (Bl. 210 VA). Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 12.09.2016 zurückgewiesen (Bl. 215 VA).

Am 12.10.2016 stellte die Klägerin einen Antrag bei dem Beklagten, „ihr ihre fixen und variablen Kosten aus Zuzahlungen der Krankenkasse, die aus Arztverordnungen resultierten, zu übernehmen“ (Bl. 219 VA).

Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 13.10.2016 mit der Begründung ab, dass Sonderleistungen nur gemäß § 24 Abs. 3 SGB II gewährt werden könnten, weitere einmalige Sonderleistungen (z.B. die Übernahme der Gebühren für Zuzahlungen der Krankenkasse für therapeutische Anwendungen oder ähnliches) das SGB II jedoch nicht vorsehe (Bl. 220 VA).

Der Bescheid vom 01.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.09.2...

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