Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Einkommensberücksichtigung. einmalige kommunale Zuwendung. Einwohner-Energie-Geld (EEG) der Stadt Kassel zur Abmilderung finanzieller Belastungen durch gestiegene Kosten der Energieversorgung während des Winterhalbjahres 2022/2023. Privilegierung. Auslegung von § 11a Abs 3 S 1. aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften erbrachte Leistungen. Zweckbestimmung. Auslegung von § 11a Abs 5 Nr 2 SGB 2. Zuwendung ohne rechtliche Pflicht. Erheblichkeit der Beeinflussung der Lage des Leistungsberechtigten. Verteilung auf die Monate des definierten Begünstigungszeitraums. Auslegung von § 11a Abs 5 Nr 1 SGB 2. grobe Unbilligkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Für die Frage, ob eine rechtliche Pflicht im Sinne des § 11a Abs 5 SGB II zur Erbringung einer aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Vorschrift erbrachten kommunalen Leistung besteht, kommt es darauf an, ob die Leistung abstrakt freiwillig erfolgt, die öffentlich-rechtliche Vorschrift also nicht hätte erlassen werden müssen; nicht maßgeblich ist, dass die Leistung nach Erlass der öffentlich-rechtlichen Vorschrift und jedenfalls nach Erlass des hierauf gründenden begünstigenden Verwaltungsakts rechtsverbindlich und einklagbar zugesagt ist.
2. Bei einer einmaligen Leistung, die für einen definierten längeren Zeitabschnitt (hier: Winterhalbjahr) gewährt wird, ist diese Leistung für die Betrachtung der übermäßig günstigen Beeinflussung der Lage der Leistungsberechtigten nach § 11a Abs 5 Nr 2 SGB II rechnerisch zeitanteilig auf die Monate des definierten Begünstigungszeitraums zu verteilen.
Orientierungssatz
1. Die einmalige Einnahme aus den Zahlungen des Einwohner-Energie-Geld (EEG) der Stadt Kassel ist nicht gemäß § 11a Abs 3 S 1 SGB 2 von der Anrechnung auszunehmen.
2. Zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der "groben Unbilligkeit" im Sinne des § 11a Abs 5 Nr 1 SGB 2.
Tenor
I. Auf die Berufungen der Kläger zu 1. bis 5. im Verfahren L 6 AS 310/23 und auf die Berufung des Klägers zu 6. im Verfahren L 6 AS 311/23 werden die Urteile des Sozialgerichts Kassel vom 7. August 2023 und die Bescheide des Beklagten vom 15. Dezember 2022 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 3. Januar 2023 aufgehoben.
II. Der Beklagte hat den Klägern in beiden Verfahren L 6 AS 310/23 und L 6 AS 311/23 ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision in den Verfahren L 6 AS 310/23 und L 6 AS 311/23 wird zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger wenden sich gegen die Berücksichtigung des sogenannten Einwohner-Energie-Geldes (EEG) der Stadt Kassel bei der Berechnung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für den Monat November 2022.
Die 1997 geborene Klägerin zu 1. sowie ihre vier minderjährigen Kinder, die Kläger zu 2. bis 5., leben zusammen mit ihrem Lebensgefährten bzw. Vater, dem Kläger zu 6., in einer Bedarfsgemeinschaft und beziehen laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Beklagten.
Auf den für die Bedarfsgemeinschaft gestellten Weiterbewilligungsantrag vom 11. März 2022 hin bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 21. März 2022 (elektronische Verwaltungsakte [eVA] Bl. 11 ff.), für den Zeitraum Mai 2022 bis April 2023 monatliche Leistungen nach dem SGB II. Mit Änderungsbescheid vom 6. September 2022 (eVA Bl. 72 ff.) erhöhte der Beklagte (u.a.) die Direktzahlungen an den Vermieter von 1.030,- Euro ab Oktober 2022 auf monatlich 1.110,- Euro. Dieser hatte gegenüber den Klägern geltend gemacht, der Gaspreis habe sich mehr als verdoppelt; aus diesem Grund sei eine Anpassung der Vorauszahlungen (im Bewilligungsbescheid vom 21. März 2022 mit 124,68 Euro angesetzt) auf 200,- Euro erforderlich (Schreiben des Vermieters vom 25. August 2022). Ein weiterer Änderungsbescheid vom 15. September 2022 betraf nur die Leistungen für August 2022, für den der Bedarfsgemeinschaft zusätzliche Leistungen in Höhe von 38,52 Euro bewilligt wurden wegen einer Heizkostennachzahlungsforderung. Mit weiterem Änderungsbescheid vom 21. November 2022 wurde die Leistungsbewilligung für den Monat Dezember 2022 um 5,16 Euro abgesenkt wegen der Auszahlung eines Betriebskostenguthabens.
In ihrer 14. Sitzung vom 18. Juli 2022 beschloss die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Kassel das Programm „Kopf hoch, Kassel! - Einwohner-Energie-Geld (EEG)“ zur Gewährung einer einmaligen finanziellen Zuwendung, um die finanziellen Belastungen durch gestiegene Kosten der Energieversorgung für die Kasseler Einwohnerinnen und Einwohnern mit alleinigem Wohnsitz oder Hauptwohnsitz im Stadtgebiet abzumildern. Für die finanziellen Zuwendungen wurden insgesamt 15,4 Mio. Euro im städtischen Haushalt 2022 zur Verfügung gestellt. Der Magistrat der Stadt Kassel wurde im Beschluss zur Umsetzung dieses finanziellen Unterstützungsprogramms ermächtigt. In Umsetzung des Beschlusses wurden am 30. September 2022 entsprechende Förderrichtlinien erlass...