Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsansprüche der Leistungsträger untereinander. Sozialhilfe. Vorrang der Eingliederungshilfe vor der Jugendhilfe bei mehrfach behindertem Kind. wesentliche Behinderung. Hilfe zur Erziehung
Orientierungssatz
1. § 104 Abs 1 SGB 10 setzt das Bestehen miteinander konkurrierender, auf dieselbe Leistung gerichteter Leistungsverpflichtungen unterschiedlicher Sozialleistungsträger voraus (vgl BVerwG vom 2.3.2006 - 5 C 15/05 = BVerwGE 125, 95).
2. Die Vor- und Nachrangregelung in § 10 Abs 2 SGB 8 aF bzw § 10 Abs 4 SGB 8 nF stellt nicht auf einen Schwerpunkt in Bezug auf eine der beiden Hilfeleistungen ab, sondern allein auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen. Konkurrieren Jugendhilfeleistungen mit den in S 2 genannten Maßnahmen der Eingliederungshilfe, so ist nach S 2 die Sozialhilfe vorrangig; konkurrieren Jugendhilfeleistungen mit anderen (als den in S 2 genannten) Sozialhilfeleistungen, so ist nach S 1 die Jugendhilfe vorrangig (Anschluss an BVerwG vom 23.9.1999 - 5 C 26/98 = BVerwGE 109, 325 und BVerwG vom 2.3.2006 aaO).
3. Die Regelung des § 10 Abs 2 S 2 SGB 8 aF bzw § 10 Abs 4 S 2 SGB 8 nF betrifft auch nicht nur das Konkurrenzverhältnis zwischen der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe gem § 35a SGB 8 und der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe gem § 39 BSHG bzw § 53 SGB 12, sondern dieser Vorschrift ist zu entnehmen, dass sämtliche jugendhilferechtlichen Maßnahmen nachrangig gegenüber der Eingliederungshilfe des BSHG bzw SGB 12 für junge behinderte Menschen sind.
4. Bei der Frage nach dem Vorrang einer Eingliederungshilfe wegen geistiger Behinderung nach § 53 SGB 12 gegenüber einer Hilfe zur Erziehung nach § 34 SGB 8 kann maßgeblich für die Abgrenzung immer nur die konkrete Bedarfsbetrachtung im Einzelfall sein, wobei in diesem Zusammenhang zu prüfen ist, ob nach Art und Umfang der Behinderung eine bestimmte sozialhilferechtliche Maßnahme, hier eine stationäre Eingliederungshilfe in einem Heim, erforderlich ist (vgl OVG Saarlouis vom 11.7.2007 - 3 Q 104/06).
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Marburg vom 23. Februar 2007 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert im Berufungsverfahren beträgt 35.332,86 €.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Aufwendungen in Höhe von noch 35.332,86 €, die der Kläger zu Gunsten der Hilfeempfängerin S. T., geboren 1981, in der Zeit vom 1. Januar 2001 bis zum 28. August 2001 für deren Unterbringung in einem Jugendheim aufgewandt hat.
Der Kläger gewährte zunächst bis 1995 zu Gunsten S. T. ambulante erzieherische Hilfen, nachdem bei S. T., welche damals im Haushalt der Großeltern zusammen mit ihrer alleinerziehenden Mutter und ihrer Schwester lebte, Verhaltensauffälligkeiten in Form unvermittelter Aggressionsausbrüche, Waschzwänge sowie extreme Distanzlosigkeit und ein Entwicklungsrückstand von zirka 18 Monaten mit Verdacht auf eine Lernbehinderung festgestellt worden waren. Sowohl die Mutter als auch die Großeltern waren mit dem Verhalten von S. T. damals überfordert. Nachdem S. 1997 den Schulabschluss erreicht hatte, zeigten sich im familiären Umfeld Probleme. S. T. neigte zu Gewalthandlungen insbesondere gegenüber ihrer Mutter. Der Kläger gewährte in diesem Zusammenhang sodann auf Antrag der Mutter Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung/Sonstige betreute Wohnform nach § 34 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) mit Bescheid vom 16. November 1998. Mit Bescheid vom 23. April 1999 bewilligte der Kläger diese Hilfe ab 15. April 1999 als Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII.S. T. kehrte im August 2001 von einem Aufenthalt bei ihrem damaligen Freund in das Jugendheim nicht mehr zurück, so dass der Kläger mit Bescheid vom 29. August 2001 gegenüber S. T. die ihr bis dahin gewährte Hilfe für junge Volljährige zum 28. August 2001 wegen mangelnder Mitwirkung beendete.
Bereits am 3. August 2000 begutachtete das Gesundheitsamt des U-V-Kreises S. T. Frau D., Ärztin für Psychiatrie, verfasste unter dem 16. Februar 2001 eine gutachterliche Stellungnahme, in der sie auch Befundberichte des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. OE. und des Diplom-Psychologen W. zu Grunde legte. Die Gutachterin kam zu dem Ergebnis, dass S. T. an einer leichten bis mittelgradigen geistigen Behinderung mit besonderen Schwächen im Bereich des Abstraktionsvermögens, des allgemeinen Urteilsvermögens, der sozialen Wahrnehmung, des Verständnisses für Zusammenhänge, des räumlichen Vorstellungsvermögens sowie der Fähigkeit zum Problemlösen leide. Sie ermittelte den Gesamtintelligenzquotienten mit 44, dabei stellte sie im Teilbereich verbal 55, im Teilbereich Handlung 43 fest. Zusätzlich zu der intellektuellen Behinderung zeige sich im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung eine deutliche Störung. S. sei nur eingeschränkt anpassungsfähig und zeige inadäquates Verhalten, sei leicht zu beeinfl...