Entscheidungsstichwort (Thema)
behinderter Jugendlicher. Mehrfachbehinderung. Abgrenzung der Leistungen der Eingliederungshilfe von den Leistungen der Hilfe zur Erziehung. Vorrang der Sozialhilfe vor der Jugendhilfe
Orientierungssatz
1. Leistungen der Eingliederungshilfe sind von Leistungen der Hilfe zur Erziehung nicht danach abzugrenzen, ob auch bei "idealen" Eltern eine Unterbringung außerhalb der Familie erforderlich wäre. § 35a Abs 2 SGB 8 fordert keine Ursächlichkeit, sondern stellt auf den Bedarf im Einzelfall ab und geht somit von einer konkreten Betrachtungsweise aus. Liegt damit eine seelische Behinderung iS von § 35a Abs 1 SGB 8 vor, die im konkreten Fall - sei es auch, weil die Eltern allgemein erzieherisch überfordert sind - eine Heimunterbringung erforderlich macht, reicht dies zur Anwendung der Norm aus.
2. Bei Mehrfachbehinderung stellt § 10 Abs 4 S 2 SGB 8 nicht auf den Schwerpunkt der Leistung ab.
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 35.332,86 nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 03.06.2005 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Der Streitwert wird auf € 35.351,67 festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger fordert von dem Beklagten die Erstattung von Aufwendungen in Höhe von € 35.351,67, die er zugunsten der Hilfeempfängerin R. L., geboren ... 1981, für den Zeitraum vom 01.01.2001 bis zum 28.08.2001 getätigt hat.
R. L. lebte zunächst, zusammen mit ihrer alleinerziehenden Mutter und ihrer jüngeren Schwester, im Haushalt der Großeltern in W. L. Nach der Einschulung gab es bei ihr Verhaltensauffälligkeiten (unvermittelte Aggressionsausbrüche, Waschzwang, extreme Distanzlosigkeit) sowie einen Entwicklungsrückstand von ca. 18 Monaten mit Verdacht auf eine Lernbehinderung. Die Mutter und die Großeltern waren mit dem Verhalten von R. deutlich überfordert. Der Kläger gewährte daher ambulante erzieherische Hilfen, die bis 1995 andauerten. Im Sommer 1997 erreichte R. den Sonderschulabschluss. Da es im familiären Umfeld erhebliche Probleme gab, beantragte die Mutter von R. bei dem Kläger am 01.07.1997 Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung/sonstige betreute Wohnform nach § 34 KJHG. Ab dem 30.10.1998 war R., zunächst probeweise, in der Außenwohngruppe des Kinder- und Jugendhilfeverbundes Ka. W. in F. untergebracht. Mit Bescheid vom 16.11.1998 bewilligte der Kläger für R. Leistungen nach § 34 KJHG in Form der Heimerziehung. Mit Bescheid vom 23.04.1999 teilte der Kläger der Mutter von R. mit, dass die Hilfe ab dem 15.04.1999 als Hilfe für junge Volljährige nach § 41 KJHG gewährt werde.
Am 03.08.2000 fand beim Gesundheitsamt des S.-Kreises eine ärztliche Begutachtung von R. statt. Nachdem die Gutachterin, die Ärztin für Psychiatrie L., die Durchführung einer IQ-Testung angeregt hatte, erstellte sie unter dem 16.02.2001 eine gutachterliche Stellungnahme (Bl. 67 und 68 der Behördenakte des Klägers, Bd. 3). Der Stellungnahme lagen neben der eigenen Begutachtung auch die Befundberichte des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. L. sowie des Diplom-Psychologen K. zugrunde. Die Gutachterin stellte fest, dass R. an einer leichten bis mittelgradigen geistigen Behinderung mit besonderen Schwächen im Bereich des Abstraktionsvermögens, der sozialen Wahrnehmung, der Verständnisse für Zusammenhänge, des räumlichen Vorstellungsvermögens und der Fähigkeit zum Problemlösen leide. Ihr Gesamtintelligenzquotient betrage 44, der Teilbereich verbal 55, der Teilbereich Handlung 43. Zusätzlich zu den intellektuellen Behinderungen zeigten sich im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung deutliche Störungen. Aus psychiatrischer Sicht gehöre R. zum Personenkreis nach § 35a KJHG, eine geistige Behinderung liege vor. Die gutachterliche Stellungnahme ging am 20.02.2001 bei dem Kläger ein. Mit ergänzender Stellungnahme vom 07.03.2001, die beim Kläger am 13.03.2001 einging, erklärte die Ärztin L., bei R. liege eine wesentliche und nicht nur vorübergehende Behinderung im Sinne des § 39 BSHG vor. Die geistige Behinderung stehe im Vordergrund und sei für die vollstationäre Maßnahme entscheidend.
Mit Schreiben vom 14.03.2001, welches an den Beklagten am gleichen Tag per Fax übersandt wurde, teilte der Kläger dem Beklagten mit, bei R. sei durch die amtsärztliche Untersuchung eine Mehrfachbehinderung festgestellt worden, wobei die geistige Behinderung im Vordergrund stehe. Es werde daher fristwahrend ein Erstattungsanspruch nach §§ 102 f SGB X geltend gemacht. Im Folgenden übersandte der Kläger an den Beklagten weitere Unterlagen.
Nachdem R. von einem Aufenthalt bei ihrem Freund nicht mehr in die Einrichtung zurückgekehrt war und es noch weitere Schwierigkeiten gab, wurde die Hilfe zur Erziehung mit Wirkung zum 28.08.2001 beendet. Dies teilte der Kläger dem Beklagten mit Schreiben vom 01.02.2002 mit.
Auf Anforderung des Beklagten erstellte die Ärztin L. unter dem 14.02.2002 eine weitere amtsärztliche Stellungnahme (...