Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 1301. Harnblasenkrebs. aromatische Amine. Einwirkung von Gefahrstoffen der Kategorie 1 der MAK-Werte-Liste: Amin 2-Naphthylamin und o-Toluidin. haftungsbegründende Kausalität. Beschäftige in der Gummiindustrie in den 1980er Jahren. Exposition im Vollbeweis gesichert. naturwissenschaftlicher Zusammenhang. kein wissenschaftlicher Konsens hinsichtlich Mindestdosis für eine Dosis-Wirkungs-Beziehung. mehrmonatige berufliche Einwirkung durch 2-Naphthylamin ausreichend. Risiko durch zusätzlichen Tabakkonsum nicht überragend
Leitsatz (amtlich)
1. Für Beschäftige in der Gummiindustrie in den 1980er Jahren ist die Exposition gegenüber dem aromatischen Amin 2-Naphthylamin im Vollbeweis gesichert.
2. Nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ist das Krebsrisiko beim Menschen nach inhalativer und dermaler Aufnahme des Alterungsschutzmittels Phenyl-2-Naphthylamin (P2NA) am Arbeitsplatz in der Gummiindustrie deutlich erheblicher zu bewerten als bisher angenommen.
3. Hinsichtlich des Nachweises einer kumulativen Exposition gegenüber urothelkanzerogenen Aminen im mg-Bereich und damit der Forderung nach einer Mindestdosis oder Schwellendosis herrscht kein Konsens in der Wissenschaft.
4. Eine mehrmonatige berufliche Einwirkung durch 2-Naphthylamin kann zur Verursachung eines Harnblasenkarzinom genügen, da dieses Amin das größte kanzerogene Potenzial hat.
5. Zwischen der berufsbedingten Aufnahme von 2-Naphthylamin und der Aufnahme durch den Konsum von Tabak besteht ein mehr als additiver Synergismus.
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 14. Juni 2013 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 22. November 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. März 2012 verurteilt, ihren Bescheid vom 21. April 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2004 zurückzunehmen und bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach der Nr. 1301 der Anlage 1 der BKV anzuerkennen.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Instanzen.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 1301 der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) streitig.
Der 1959 geborene Kläger erlernte von 1976 bis 1978 den Metzgerberuf. Nach dem Wehrdienst arbeitete er von 1980 bis 1981 in einem Sägewerk, danach bis 1982 bei der Firma FA1 in D-Stadt in der Metallbearbeitung als Maschinenbediener und anschließend bis 1983 als Verkaufsfahrer für FA2. Nach einer ca. einjährigen Arbeitslosigkeit arbeitete er von 1984 bis 1986 für das Zeitarbeitsunternehmen FA3. Während dieser Zeit war er als Leiharbeitnehmer für 14 Monate bei der Firma FA4 in der Gummifertigung und für drei Monate bei der Firma FA5 im Bereich Recycling von Industriekatalysatoren sowie bei FA6 als Testfahrer beschäftigt. In den Jahren 1987, 1988 war er als Bauhelfer und Lkw-Fahrer und in den Folgejahren bis 1997 im Werksschutzdienst tätig. Seit 1998 ist der Kläger bei der Firma FA7 im Postdienst eingesetzt.
Im Oktober 2001 wurde bei dem Kläger ein Harnblasentumor diagnostiziert und von der behandelnden Klinik T... der Verdacht auf Vorliegen einer BK gemeldet.
Die Firma FA1 teilte am 19. Dezember 2002 mit, der Kläger sei vom 27. Juli 1981 bis 28. Februar 1982 in der Automobil-Kolbenfertigungsreihe beschäftigt, gewesen. Er habe Kolbenrohlinge in eine Bearbeitungsmaschine eingespannt und bearbeitet. Dabei sei er mit wasserlöslichen Bohrölemulsionen in Kontakt gekommen. Die für die Firma FA1 zuständige Edel- und Unedelmetall-BG teilte hierzu am 16. April 2003 mit, die Firma FA1 habe von der Firma FA8 Kühlschmierstoffe bezogen, es sei wahrscheinlich das Produkt "FA8 xxx" eingesetzt worden. Falls Kühlschmierstoffe aromatische Amine enthalten hätten, seien diese ungefährlich, da beim üblichen Umgang aromatische Amine nicht freigesetzt werden könnten (so die Ausführungen in Mehrtens-Perlebach, Vorkommen und Gefahrenquellen für BK Ziffer 1301).
Die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie (BG-Chemie) gab Auskunft über die Beschäftigung des Klägers bei der Firma FA4 Gummiwarenfabrik GmbH und führte unter dem 15. Juli 2003 aus, der Mitgliedsbetrieb habe seit 1993/1994 seine Produktion eingestellt. Es gäbe keine Ansprechpartner, die Auskunft zu den dortigen Arbeitsplätzen geben könnten. Deshalb sei der Kläger zu den Verhältnissen an seinem Arbeitsplatz befragt worden. Bei der Firma FA4 seien Gummiteile für die Automobilindustrie, wie z.B. Schläuche und Gummimanschetten, hergestellt worden. Der Kläger habe in einer ca. 70 x 25 x 6 m großen Halle, in der 1 bis 14 Einspritzpressen gestanden hätten, gearbeitet. Er habe den Plastifizierschnecken die Gummimischung, die in Form von 1 bis 1,50 m langen Bändern angeliefert worden sei, von Hand zuführen müssen. Außerdem habe er die fertig vulkanisierten T...