Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. frühkindliche Missbrauchserfahrung. GdS-Feststellung. komplexe posttraumatische Belastungsstörung. rückwirkende Anwendung der ICD-11. bereits zuvor bestehender wissenschaftlicher Konsens

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Beurteilung einer kPTBS nach der ICD-11 bereits vor deren Inkrafttreten.

 

Orientierungssatz

Geben die Kriterien der ICD-11 einen bereits zuvor bestehenden aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wieder, sind sie im Rahmen der Feststellung des Grads der Schädigungsfolgen (GdS) auch schon auf diesen vorhergehenden Zeitraum anzuwenden (hier von 2017 bis 2020), ohne dass es darauf ankommt, ab wann sie der Versorgungsverwaltung bekannt waren.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 26.04.2022; Aktenzeichen B 9 V 39/21 B)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 19. Dezember 2019 sowie der Bescheid des Beklagten vom 8. Mai 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2017 aufgehoben.

Der Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Absenkung des bei der Klägerin festgestellten Grades der Schädigungsfolgen (GdS) streitig.

Die 1969 geborene Klägerin wurde von ihrem 7. bis zu ihrem 14. Lebensjahr wiederholt Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Stiefgroßvater.

Am 14.03.2012 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG). Infolge des sexuellen Missbrauchs leide sie unter seelischen und gynäkologischen Gesundheitsschäden, Rückenbeschwerden und seit ihrer Kindheit unter Darmbeschwerden beim Toilettengang. Insgesamt bestünde bei ihr eine psychische Störung. Ihre alltägliche Lebensqualität sei beeinträchtigt.

Der Beklagte zog einen Bericht des Ergotherapeuten C. vom 18.06.2014 sowie die Unterlagen der Wicker-Klinik Bad Wildungen bei (Reha-Maßnahme vom 10.08.2012 bis 24.08.2012). Sodann veranlasste der Beklagte ein Gutachten bei dem Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. D. Dieser führte in seinem Gutachten vom 17.09.2014 aus, dass bei der Klägerin eine Traumafolgestörung infolge des sexuellen Missbrauchs vorliege. Vor dem sexuellen Missbrauch habe es keine psychischen Vorerkrankungen mit Einfluss auf das Schadensereignis gegeben. Nachträglich seien keine schädigungsunabhängigen Faktoren von Einfluss auf die Traumafolgestörung eingetreten. Die Traumafolgestörung sei ab der Antragstellung im März 2012 mit einem GdS von 30 zu bewerten. In der Untersuchung vom 11.09.2014 habe die Klägerin über Probleme mit männlichen Personen, namentlich, wenn diese sich im fortgeschrittenen Alter befänden und von Statur und Gestik oder Stimme dem inzwischen verstorbenen Großvater entsprächen, berichtet. Erinnerungsbilder träten einmal pro Woche an bestimmte Szenen mit dem Großvater auf, ähnliche Erscheinungen könnten auch nachts in Wachphasen auftreten. Ferner sei ab dem 6. Lebensjahr eine Dunkelangst und Angst in engen Räumen aufgetreten. Um das 16. Lebensjahr habe die Klägerin eine Höhenangst entwickelt und Ängste vor dem Alleinsein. Der Anblick von Pferden, die seinerzeit auf dem Reiterhof des Großvaters immer präsent gewesen seien, könnten Flashbacks hervorrufen. Es bestehe eine Abneigung gegen Körperkontakt und Geschlechtsverkehr, der deshalb nur zwei- bis dreimal im Jahr stattfinde. Die Klägerin habe über eine täglich auftretende Ein- und Durchschlafstörung seit der Kindheit berichtet. Außerdem bestehe eine übermäßige Schreckhaftigkeit. Die Prognose erscheine unter Fortsetzung der gegenwärtigen Therapie günstig.

Mit Bescheid vom 09.10.2014 anerkannte der Beklagte bei der Klägerin als Folge der Gewalttat eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und bewertete diese ab dem 01.03.2012 gemäß § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit einem GdS von 30.

Im Jahr 2015 leitete der Beklagte ein Überprüfungsverfahren ein. Er zog den Entlassungsbericht des Klinikzentrums Lindenallee (Psychosomatik, Orthopädie, Neurologie) vom 09.03.2015 bei (stationäre Behandlung vom 02.02.2015 bis zum 21.02.2015). Darin werden als Rehabilitationsdiagnosen aufgeführt: Komplexe PTBS (F43.8), chronische Schmerzstörung mit körperlichen und psychischen Faktoren (F45.41), Lumbalsyndrom, Meniskopathie links. Die Klägerin habe sich insgesamt nur sehr begrenzt auf das Therapiesetting einlassen können. Im Sinne einer ersten Selbststabilisierung und psychoedukativen Lernens habe sie jedoch von den therapeutischen Angeboten profitieren können. Entsprechend der formulierten psychotherapeutischen Behandlungsziele sei es im Verlauf des stationären Aufenthaltes insgesamt zu einer ersten Verbesserung der Symptomatik gekommen. Dies habe sich in einer vorsichtigen Beziehungsaufnahme und einer Steigerung der Selbstwirksamkeitsüberzeugungen gezeigt. Zu dieser Verbesserung der Symptomatik habe...

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