Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialversicherungspflicht. Sozialversicherungsfreiheit. Vertriebsleiter in einer Familiengesellschaft mit freier Hand in der Führung der Geschicke der GmbH. Gesellschafter. Geschäftsführer. fehlende Beteiligung am Unternehmenskapital. keine Ausübung des Direktionsrechts seitens der GmbH. Rechtsmacht. abhängige Beschäftigung. selbständige Tätigkeit
Orientierungssatz
1. Familiäre Verbundenheit oder Rücksichtnahme ist grundsätzlich nicht geeignet, die Rechtsmacht, wie sie sich nach dem Gesellschaftsrecht ergibt, gänzlich zu negieren.
2. Das Fehlen einer (maßgeblichen) Unternehmensbeteiligung führt nicht zwingend zu einer abhängigen Beschäftigung eines Geschäftsführers einer Gesellschaft. Vielmehr kann in sehr begrenzten Einzelfällen eine selbständige Beschäftigung anzunehmen sein. Ein solcher Ausnahmefall kann zB bei Familienunternehmen vorliegen, wenn es aufgrund der familienhaften Rücksichtnahme an der Ausübung eines Direktionsrechts völlig mangelt. Hiervon kann insbesondere bei demjenigen auszugehen sein, der - obwohl nicht maßgeblich am Unternehmenskapital beteiligt - aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehungen faktisch wie ein Alleininhaber die Geschäfte des Unternehmens nach eigenem Gutdünken führt und frei schalten und walten kann (vgl BSG vom 8.12.1997 - 7 RAr 25/86 und LSG Mainz vom 31.3.2010 - L 6 R 3/09).
Normenkette
SGB IV § 7 Abs. 1 S. 1; SGB V § 5 Abs. 1 Nr. 1; SGB XI § 20 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; SGB VI § 1 S. 1 Nr. 1; SGB III § 25 Abs. 1
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 9. Februar 2011 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat hinsichtlich des Verfahrens des Klägers zu 1. die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu tragen.
Hinsichtlich des Verfahrens der Klägerin zu 2. hat die Beklagte die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen zu tragen.
Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger zu 1. in der Zeit vom 1. Mai 2006 bis zum 17. August 2011 bei der Klägerin zu 2. sozialversicherungspflichtig beschäftigt war.
Am 10. März 2006 beantragte der Kläger zu 1., der ausgebildeter Diplomkaufmann ist, die Feststellung seines versicherungsrechtlichen Status als Vertriebsleiter der Klägerin zu 2. Alleinige Gesellschafterin sowie Geschäftsführerin der Klägerin zu 2. (Stammkapital: 358.000 €) war ab Oktober 2005 die Ehefrau des Klägers zu 1. Seit dem 17. August 2011 ist auch der Kläger zu 1. Geschäftsführer der Klägerin zu 2.; die Eheleute sind jeweils einzelvertretungsberechtigt. Seit dem 13. März 2012 ist der Kläger zu 1. zudem Gesellschafter der Klägerin zu 2. und hält die Hälfte des Stammkapitals.
Unter dem 30. April 2006 vereinbarte die Klägerin zu 2. mit dem Kläger zu 1. einen Anstellungsvertrag. Hiernach ist der Kläger zu 1. Vertriebsleiter für die Bereiche Netze und Lockenwickler. Dienstantritt war der 1. Mai 2006. Sein monatliches Gehalt betrug zunächst 6.000 € und ab dem 1. November 2006 8.000 €. Es wurde Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die Dauer von drei Monaten sowie ein Anspruch auf Jahresurlaub von 30 Arbeitstagen vereinbart. Eine Beteiligung des Klägers zu 1. an anderen Unternehmen sowie die Mitgliedschaft in Organen fremder Gesellschaften sind anzeigepflichtig. Der Anstellungsvertrag wurde auf unbestimmte Zeit geschlossen. Eine Kündigung ist nur aus wichtigen Gründen möglich. Änderungen und Ergänzungen des Vertrages sowie Nebenabreden bedürfen der Schriftform. Zudem übernahm der Kläger zu 1. am 12. April 2001 zugunsten der Klägerin zu 2. u.a. eine Bürgschaft in Höhe von 384.000 € (im Jahr 2005 reduziert auf 375.000 €).
Der Kläger zu 1. war zudem Geschäftsführer der Firma BX. GmbH (Herstellung und Vertrieb von Kunststoffartikeln aller Art). Nach seinen Angaben hielt er 52 % des Stammkapitals dieser GmbH; die restlichen 48 % hielten seine vier Kinder. Mit Beschluss des AG Kassel vom 3. August 2008 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet und die BX. GmbH aufgelöst (Handelsregisterauszug vom 30. Oktober 2012, Bl. 210 d.A.).
Darüber hinaus war der Kläger zu 1. Geschäftsführer der Firma BY. GmbH (Vertrieb von Vogelschutz-, Weihnachtsbaum- und Blumenzwiebelnnetzen). Das Stammkapital dieser Gesellschaft halten der Kläger zu 1. zu 94 % und sein Bruder zu 6 %. Diese GmbH wiederum ist persönlich haftende Gesellschafterin der Firma BZ. GmbH & Co. KG. Deren Kommanditisten sind Dr. D. A. mit einer Einlage in Höhe von 102.258,37 € und der Kläger zu 1. mit einer Einlage in Höhe von 204.516,75 €.
Nach den Angaben des Klägers zu 1. verkaufte die BX. GmbH seit Ende der 80er Jahre Lockenwickler. Diesen Vertrieb habe die 1998 gegründete Klägerin zu 2. übernommen, um Konflikte mit dem Großhandel zu vermeiden. Der Vertrieb der Vogelschutznetze erfolge seit 2005 nicht mehr durch die BY. GmbH, sondern durch die Klägerin zu 2. Der Kläger zu 1. sei Ansprech- un...