Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirtschaftlichkeitsprüfung. Arzneimittelregress. Verordnung empfängnisverhütender Mittel. Altersgrenze. keine Erforderlichkeit eines Vorverfahrens als Klagevoraussetzung. geistige Behinderung. analoge Anwendung. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei einem Arzneimittelregress wegen der Verordnung empfängnisverhütender Mittel an Frauen, die älter als 20 Jahre sind, findet nach § 106 Abs 5 S 8 SGB 5 ein Vorverfahren nicht statt, da sich der Ausschluss dieser Leistungen unmittelbar aus § 24a Abs 2 SGB 5 ergibt.

2. Die Altersbegrenzung in § 24a Abs 2 SGB 5 verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 Grundgesetz - GG). Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die gesetzliche Regelung planwidrig lückenhaft ist. Eine analoge Anwendung dieser Vorschrift auf Frauen mit geistigen Behinderungen, die das 20. Lebensjahr bereits überschritten haben, ist daher nicht möglich.

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 1. Februar 2012 wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten auch des Berufungsverfahrens zu tragen. Die Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auf 1.025,33 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über einen Arzneikostenregress wegen der Verordnung empfängnisverhütender Mittel in den Quartalen I und II/08 in Höhe von 1.025,33 € netto.

Der Kläger ist ein eingetragener Verein. Er ist als stationäre Behindertenhilfe anerkannt, verfügt über einen eigenständigen ärztlichen Dienst und ist zu Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung ermächtigt.

Die Beigeladene beanstandete mit Schreiben vom 24. März 2009 gegenüber der Beklagten die in einer Anlage aufgeführten Verordnungen. Bei den aufgeführten Arzneimitteln handele es sich um empfängnisverhütende Mittel. Diese könnten gemäß § 24a Abs. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) in den aufgeführten Fällen nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden, da die Verordnungen nach dem vollendeten 20. Lebensjahr ausgestellt worden seien. Dem Antrag beigefügt war eine Auflistung der beanstandeten Verordnungen in den Quartalen I und II/08, insgesamt für das Quartal I/08 27 Verordnungen in 19 Behandlungsfällen und für das Quartal II/08 19 Verordnungen in 19 Behandlungsfällen, wovon die Patienten im Quartal II/08 bis auf die Patientin QW. und ER. auch bereits im Quartal I/08 behandelt worden waren.

Der Kläger trug zum Prüfantrag mit Schreiben vom 21. April 2009 vor, die beanstandeten Verordnungen von empfängnisverhütenden Mitteln beträfen Patientinnen, die nur über sehr geringe Eigenmittel verfügten und deren Einsichtsfähigkeit in die Notwendigkeit einer gesundheitsbewussten Lebensführung während der Schwangerschaft aufgrund ihrer geistigen Behinderung stark eingeschränkt sei und die überdurchschnittlich häufig Medikamente einnähmen, die eine gesunde Entwicklung des ungeborenen Lebens gefährdeten. Die Beigeladene habe denn auch die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Verordnungen seit Jahren durch Übernahme der Kosten anerkannt. Er beantrage die weitere Kostenübernahme. Sollte dies die Beigeladene ablehnen, sollten nur künftige Verordnungen hiervon betroffen sein. Eine rückwirkende Ablehnung halte sie mit Rücksicht auf die betroffenen Patientinnen für nicht vertretbar.

Die Beklagte setzte mit Bescheid vom 8. Dezember 2010 den strittigen Arzneikostenregress fest. Zur Begründung führte sie aus, es handele sich um die Verordnung der Präparate X1., X2., X3., X4., X5., X6., X7. und X8.. In den Fällen der Verordnung für behinderte Patientinnen könne für die beanstandeten Präparate kein Ausnahmetatbestand erkannt werden. Die gesetzlichen Regelungen zur Kontrazeption würden auch für diesen Personenkreis gelten, sodass die Verordnungen für die Patientinnen, da das 20. Lebensjahr überschritten sei, zu beanstanden seien. Die Versorgung der Patientinnen aufgrund ihrer Behinderung sei aus ethischen Gründen nachvollziehbar, ein medizinischer Grund der Versorgung auf den Grundlagen des SGB V ergebe sich aber nicht.

Hiergegen hat der Kläger am 6. Januar 2011 Klage beim Sozialgericht Marburg erhoben. Er hat weiterhin die Auffassung vertreten, § 24a Abs. 2 SGB V stehe einer Verordnung nicht entgegen. Der Gesetzgeber habe nur Frauen ausschließen wollen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage die Kosten für Verhütungsmittel selbst tragen könnten. Menschen mit Behinderungen seien den Jugendlichen gleichzustellen. § 24a Abs. 2 SGB V sei analog anzuwenden. Es komme nicht darauf an, ob auch andere Kostenträger in Betracht kämen. Eine ungewollte Schwangerschaft bei Menschen mit Behinderungen sei durchaus geeignet, extreme gesundheitliche Probleme nach sich zu ziehen.

Die Beklagte hat ausgeführt, für eine Ausweitung des § 24a Abs. 2 SGB V auf Frauen mit Intelligenzminderung über 20 Jahren bestehe aufgrund der Gesetzesbegründung kein Anlass. Eine Ausnahme ...

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