Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. EHEC-Infektion. sachlicher Zusammenhang. kontaminierte Nahrungsaufnahme in der Betriebskantine. eigenwirtschaftliche Tätigkeit. keine besondere Betriebsgefahr: ausgegebene Nahrungsmittel mit bakteriellem Erreger. besonders hohe "Durchseuchung" der Unternehmensbelegschaft. behandlungsbedürftiges HU-Syndrom. EHEC-Erkrankung
Leitsatz (amtlich)
1. Die zu einer behandlungsbedürftigen Erkrankung führende Infektion mit einem (hier: bakteriellen) Erreger stellt einen Unfall im Sinne des § 8 Abs 1 S 2 SGB VII dar.
2. Der Nachweis, dass die Infektion sich bei einer versicherten Tätigkeit, dh einer im inneren bzw. sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehenden Verrichtung ereignete, muss im Vollbeweis gegeben sein. Die Grundsätze der Wahlfeststellung sind anwendbar.
3. Das Vorhalten einer (hier: durch einen Dritten betriebenen) Betriebskantine begründet noch keinen Versicherungsschutz nach den Grundsätzen der "besonderen Betriebsgefahr" im Hinblick auf die dort ausgegebenen Nahrungsmittel.
4. Eine besonders hohe "Durchseuchung" in der Belegschaft eines Unternehmens führt jedenfalls dann nicht zur Annahme einer besonderen Betriebsgefahr, wenn sie in keinem inhaltlichen Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Unternehmens steht.
Normenkette
SGB VII § 8 Abs. 1 Sätze 1-2, § 2 Abs. 1 Nr. 2; SGG §§ 106, 109, 128 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 1
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 24. Mai 2018 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Anerkennung einer im Jahr 2011 erlittenen EHEC-Infektion als Arbeitsunfall.
Die 1968 geborene Klägerin ist seit 1998 bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft D. GmbH (D.) in A-Stadt beschäftigt. Am Morgen des 9. Mai 2011 erkrankte sie mit starken Bauchschmerzen, Erbrechen und Durchfällen. In den Folgetagen entwickelte sie ein HU-Syndrom (hämolytisch-urämisches Syndrom). Ihre stationäre Behandlung war nach wenigen Tagen intensivpflichtig, sie wurde mehrfach operiert (Resektion von Teilen des Dickdarms; Diagnosen zu diesem Zeitpunkt: schwere Dickdarmentzündung; Verdacht auf Bauchfellentzündung; Blutvergiftung; akutes Nierenversagen nach hämolytischer Anämie und Thrombopenie; beginnendes Multiorganversagen). Auf Basis einer Probe vom 12. Mai 2011 wurde die Infektion mit dem EHEC-Erreger O104:H4 labortechnisch nachgewiesen.
Dem Ergebnisbericht der durch das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) einberufenen „Task Force EHEC zur Aufklärung des EHEC O104:H4 Krankheitsausbruchs in Deutschland“ (im Internet veröffentlicht unter: https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Downloads/01_Lebensmittel/Krisenmanagement/
Task_Force_EHEC_Ergebnisbericht_23_09_2011.pdf;jsessionid=BC62B347989CF38448D2D83241A25C08.1_cid360?__blob=publicationFile&v=3), die eingesetzt wurde, um das zur gleichen Zeit auch an anderen Orten in Deutschland beobachtete Infektionsgeschehen schnellstmöglich aufzuklären und zu stoppen, lässt sich entnehmen, dass der genannte EHEC-Erreger mit hoher Wahrscheinlichkeit über aus Ägypten bezogene Bockshornkleesamen in einen niedersächsischen Gartenbaubetrieb gelangt war, wo die Samen zum Sprossen gebracht und die Bockshornkleesprossen anschließend mit anderen Sprossenarten zu den in dem Betrieb hergestellten Sprossenmischungen „Keimspross-Mischung (milde Mischung)“ und „Würz-Mischung“ vermengt wurden. Über Zwischenhändler gelangten diese Sprossenlieferungen anschließend an Endabnehmer wie Restaurants, Kantinen, Supermärkte und Gemüsehändler. Im Rahmen der Untersuchung wurden mindestens 41 solcher Endabnehmer identifiziert, bei denen es zu entsprechenden Ausbruchgeschehen gekommen war. Hierunter befanden sich auch die beiden durch die E. Services GmbH betriebenen Betriebskantinen von D. in A-Stadt. Bundesweit fielen die ersten bestätigten Erkrankungen auf den 9., 11., 12. und 14. Mai 2011. Bekannt ist zudem eine erste Durchfallerkrankung einer Mitarbeiterin des niedersächsischen Gartenbaubetriebes am 6. Mai 2011 (ohne Nachweis von EHEC O104:H4). Als mutmaßlich kontaminiert und mit hoher Wahrscheinlichkeit im ursächlichen Zusammenhang mit dem Ausbruchgeschehen stehend wurden vor allem die Ernten vom 26. und 29. April 2011 identifiziert.
Die Ermittlungen der Task Force konzentrierten sich auf fünf prioritär ausgewählte Ausbruchsorte (sog. Cluster). Bei Cluster xx1 handelte es sich um die beiden Betriebskantinen von D. in A-Stadt. Für dieses Cluster wurden nach Abschluss der Untersuchungen im Ergebnisbericht u.a. die folgenden Daten bekannt gegeben:
- erster Auslieferungstermin für die kontaminierte Sprossen-„Würz-Mischung“ an die Kantinen und damit auch erster möglicher Expositionstermin am 2. Mai 2011 (Liefertermine danach vom 2. bis 5. Mai 2011 täglich);
- erste registrierte Erkrankun...