Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Altfall. Entbehrlichkeit der Verzögerungsrüge für eine bereits abgeschlossene Instanz. hinreichend bestimmter Klageantrag. Auslegung. ins Ermessen des Gerichts gestellter Entschädigungsbetrag. Nennung eines Mindestbetrags nicht erforderlich. schwierige Rechtsfrage. mehrmonatige Verzögerung nur in Ausnahmefällen. Einreichung von Schriftsätzen mit gewissem Umfang. zusätzliche Überlegungs- und Bearbeitungszeit von einem Monat. erhebliche Inaktivitätszeiten in zweiter Instanz. keine Kompensation der Überlänge aus erster Instanz. Abweichung von Entschädigungspauschale nur in atypischen Einzelfällen
Leitsatz (amtlich)
1. Einer Verzögerungsrüge bedarf es gem Art 23 S 4 ÜGRG (juris: ÜberlVfRSchG) ausnahmsweise nicht, wenn die Verzögerung bereits in der zum Zeitpunkt des Inkrafttreten des ÜGRG abgeschlossenen ersten Instanz eingetreten ist, unabhängig davon, wie das Verfahren in zweiter Instanz Fortgang genommen hat.
2. Für Entschädigungsklagen wegen überlanger Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens genügt für einen hinreichend bestimmten Klageantrag, dass nach Auslegung des Klägervortrags ein in das Ermessen des Gerichts gestellter Geldbetrag wegen eines konkreten Gerichtsverfahrens verlangt wird. Ein Mindestbetrag muss hierfür nicht genannt werden.
3. Eingereichte Schriftsätze, die einen gewissen Umfang haben und sich inhaltlich mit Fragen des Verfahrens befassen, bewirken generell eine Überlegungs- und Bearbeitungszeit beim Gericht von einem Monat. Dies gilt insbesondere, wenn auch Parallelverfahren desselben Klägers anhängig sind.
Orientierungssatz
1. Die Beantwortung auch schwieriger Rechtsfragen gehört zu den originären Aufgaben des Gerichts. Sie kann nur in seltenen Ausnahmefällen eine mehrmonatige Verzögerung rechtfertigen.
2. Eine Kompensation der Überlänge aus der ersten Instanz durch eine zügige Bearbeitung in der zweiten Instanz kommt nicht in Betracht, wenn im zweitinstanzlichen Verfahren die Zwölfmonatsfrist zwar noch nicht erreicht, aber doch schon sieben Monate der Inaktivität festzustellen sind.
3. Die Pauschalierung in § 198 Abs 2 S 3 GVG dient gerade dazu, unter Verzicht auf einen einzelfallbezogenen Nachweis Streitigkeiten über die Höhe der Entschädigung möglichst zu vermeiden und damit eine zügige Abwicklung des Entschädigungsverfahrens zu gewährleisten.
4. Der Entschädigungskläger kann durch den summenmäßig unbestimmten Klageantrag das Kostenrisiko in der Höhe nicht vollständig auf den Beklagten abwälzen.
Nachgehend
Tenor
1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Gießen unter dem Aktenzeichen S 6 KN 146/05 KR geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von 1.200 € zzgl. Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 20. Dezember 2011 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt eine Entschädigung für die Dauer eines krankenversicherungsrechtlichen Gerichtsverfahrens vor dem Sozialgericht Gießen (S 6 KN 146/05 KR). In der Sache stritten die Beteiligten um Erstattung von Kosten in Höhe von 4.887,04 € zuzüglich Zinsen für eine in der Zeit vom 9. April bis 11. Mai 2006 durchgeführte Rehabilitations-Maßnahme.
Am 6. Oktober 2005 erhob der Kläger Klage auf Übernahme der Kosten einer Kur vor dem Sozialgericht Gießen und begründete sie. Die Klageerwiderung der Beklagten ging am 23. Dezember 2005 beim Sozialgericht ein. Am 20. Februar 2006 forderte das Sozialgericht einen Befundbericht beim Arzt Dr. B. an, der am 14. März 2006 beim Gericht einging und der Beklagten zur Stellungnahme übersandt wurde. In der Zeit vom 9. April bis 11. Mai 2006 führte der Kläger die beantragte Kur durch.
Am 6. Juni 2006 verfügte das Sozialgericht das Verfahren zur Sitzung.
Am 21. August 2006 stellte der Kläger seine Klage auf Erstattung der für die Kur entstandenen Kosten um und legte eine Kostenaufstellung und den Rehabilitationsbericht der Kureinrichtung vor. Das Sozialgericht übersandte den Schriftsatz an die Beklagte zur Stellungnahme, die am 17. Oktober 2006 einging. Hiernach verfügte das Gericht das Verfahren erneut zur Sitzung. Im November 2006 und Januar 2007 legte der Kläger jeweils weitere Schriftsätze vor.
In der Zeit von Februar 2007 bis Oktober 2008 wurde das Gericht mit Ausnahme der Weiterreichung zweier weiterer Schriftsätze des Klägers an die Beklagte in diesem Verfahren nicht weiter tätig.
Am 20. Oktober 2008 legte der Kläger einen Schriftsatz mit ärztlichen Befunden vor, den das Gericht der Beklagten zur Stellungnahme übersandte. Am 11. Dezember 2008 teilte die Beklagte auf die Erinnerung des Sozialgerichts vom 3. Dezember 2008 mit, den Schriftsatz dem beratungsärztlichen Dienst vorgelegt zu haben. Am 15. Januar 2009 erinnerte das Gericht die Beklagte erneut an die Vorlage einer Stellun...