0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift trat mit dem SGB X v. 18.8.1980 (BGBl. I S. 1469) ab 1981 in Kraft und gilt in der Neufassung des SGB X v. 18.1.2001 (BGBl. I S. 130) mit Wirkung zum 1.1.2001.
1 Allgemeines
Rz. 2
Die Vorschrift entspricht § 65 Abs. 2 bis 5 VwVfG, bezieht jedoch über diese Regelung hinaus unter Berücksichtigung des Geltungsbereiches des SGB auch die Sozialgerichte ein und soll sicherstellen, die in § 21 Abs. 3 festgelegte Mitwirkungspflicht von Zeugen und Sachverständigen gerichtlich zu erzwingen. Behörden selbst besitzen nicht die Möglichkeit, Zeugen und Sachverständige zur Mitwirkung an einem Verwaltungsverfahren zu zwingen. Dies bleibt vielmehr den Gerichten vorbehalten. Die Regelung verstößt nicht gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz. Eine unzulässige Einwirkung der Rechtsprechung in den Bereich der vollziehenden Gewalt scheidet schon deshalb aus, weil das Gericht nur auf ausdrückliches Ersuchen der Verwaltungsbehörde tätig wird und es sich mithin nicht um einen Eingriff sondern um einen Akt der Hilfeleistung handelt. Die Verwaltungsbehörde greift auch nicht unzulässigerweise in den Bereich der rechtsprechenden Gewalt ein. Ersucht eine Verwaltungsbehörde in einem anhängigen Verwaltungsverfahren ein Gericht um die (eidliche) Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen, so erfüllt sie damit Aufgaben der vollziehenden Gewalt und greift nicht in die Rechtsprechung ein (BVerfG, Entscheidung v. 28.11.1957, 2 BvL 11/56, BVerfGE 7 S. 183 = SozR Nr. 1 zu § 20 GG). Der unterschiedlichen Rechtswegzuständigkeit der im SGB zusammengefassten Bereiche (vgl. §§ 18 bis 29 SGB I) wird durch § 22 entsprechend Rechnung getragen.
§ 22 findet seine Rechtfertigung in der Verpflichtung der Behörde, den Sachverhalt in einem Verwaltungsverfahren entsprechend dem Untersuchungsgrundsatz umfassend aufzuklären.
2 Rechtspraxis
2.1 Voraussetzungen für das Ersuchen an das Gericht
Rz. 3
Die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen durch das zuständige Sozial- oder Verwaltungsgericht nach Abs. 1 Satz 1 knüpft das Gesetz an folgende Voraussetzungen:
- Zunächst ist es notwendig, dass dem Zeugen oder Sachverständigen eine Verpflichtung zur Aussage oder zur Erstattung eines Gutachtens nach § 21 Abs. 3 obliegt.
- Ferner ist die Verweigerung durch den Zeugen oder den Sachverständigen erforderlich, ohne dass die Behörde einen der in §§ 376, 383 bis 385 oder 408 ZPO genannten Gründe für gegeben hält. Einer Aussageverweigerung steht es gleich, wenn der Zeuge trotz ordnungsgemäßer Ladung zur Aussage vor der Behörde nicht erscheint; denn die Pflicht zur Aussage schließt die Pflicht zum Erscheinen ein. Das Gleiche gilt, wenn der Sachverständige anstelle des geforderten schriftlichen Gutachtens nur ein mündliches Gutachten erstattet oder umgekehrt.
- Schließlich muss die Behörde sich in pflichtgemäßer Ausübung ihres Ermessens für das Vernehmungsersuchen entschieden haben. Ermessensfehlerfrei entscheidet die Behörde, wenn keine anderen erfolgversprechenden Möglichkeiten zur Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen bestehen, was insbesondere im Rahmen von § 21 Abs. 3 Satz 2 Bedeutung hat. Besteht eine Verpflichtung gemäß § 21 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 100, so bedarf es zur Feststellung grundloser und nachhaltiger Aussageverweigerung nicht auch noch des Nachweises einer erfolglosen Vorladung zur Vernehmung durch die Behörde (Hess. LSG, Beschluss v. 13.7.2004, L 4 B 61/04 SB; Siefert, in: von Wulffen/Schütze, SGB X, § 22 Rz. 4; a. A. LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 8.4.2003, L 6 SB 552/03 B).
Berufen sich Zeugen oder Sachverständige gegenüber der Behörde auf einen der Ausnahmetatbestände der §§ 376, 383 bis 385 und 408 ZPO und ist die Geltendmachung eines solchen Weigerungsrechts nach Ansicht der Verwaltungsbehörde begründet, so hat die Inanspruchnahme des Sozial- oder Verwaltungsgerichts zu unterbleiben. Eine Verweigerung der Zeugenaussage oder der Erstattung eines Gutachtens kann insbesondere bei fehlender erforderlicher Aussagegenehmigung, wegen persönlicher Beziehungen zu den Beteiligten oder aus sachlichen Gründen in Betracht kommen. Es genügt, dass Zweifel an der Geltendmachung des Weigerungsrechtes bestehen und insoweit Rechtsklarheit durch das Sozial- oder Verwaltungsgericht herbeigeführt werden soll.
Rz. 4
Das Ersuchen der Behörde stellt keinen selbständig anfechtbaren Verwaltungsakt dar, sondern ist eine vorbereitende Verfahrenshandlung. Ob der Zeuge die Aussage oder der Sachverständige die Erstattung des Gutachtens zu Recht verweigern, hat das angegangene Gericht zu entscheiden. Im Übrigen prüft das Gericht die Erfüllung der formellen Anforderungen gemäß Abs. 1 Satz 3. Dagegen darf das Gericht die Entscheidung der Behörde, dass die Vernehmung zur Sachverhaltsermittlung erforderlich ist, nicht nachprüfen. Sind die Anforderungen an die Form erfüllt, ist das Gericht mithin insoweit an das Ersuchen gebunden. Die Behörde hat in ihrem Ersuchen besonderen Wert auf eine vollständige Darstellung des Beweisthemas zu legen. Diese Angaben sind ebenso wie die weiteren Angaben nach Satz 3 erforderlich, damit die Beteiligten ents...