Rz. 13
Die Klage gilt gemäß Abs. 2 Satz 1 als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt. In der Aufforderung muss der Kläger auf die Rechtsfolge, die sich aus Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 ergibt, nämlich die Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache (siehe zu den Wirkungen Rn. 14 ff), hingewiesen werden. Weitere Voraussetzungen enthält das Gesetz nicht. Insbesondere erfordert die Beendigung des Verfahrens – im Gegensatz zum Verwaltungsprozess nach § 92 Abs. 2 Satz 4 VwGO – keinen Beschluss über die Feststellung, dass die Klage als zurückgenommen gilt. Gleichwohl unterliegt die Betreibensaufforderung formellen, materiellen und inhaltlichen Anforderungen, ohne deren Erfüllung sie nicht wirksam ist (BSG, Urteil v. 1.7.2010, B 13 R 58/09 R, BSGE 106 S. 254 = SozR 4-1500 § 102 Nr. 1).
Aus verfassungsrechtlichen Gründen setzte bereits nach der ständigen Rechtsprechung zu § 81 AsylVfG und § 92 VwGO die Rücknahmefiktion als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal voraus, dass im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden haben (BVerfG, Beschluss v. 27.10.1998, 2 BvR 2662/95, DVBl 1999 S. 166; BVerwG, Beschluss v. 7.7.2005, 10 BN 1/05; BVerwG, Beschluss v. 18.9.2002, 1 B 103/02, NVwZ 2003 S. 17; BVerwG, Beschluss v. 12.4.2001, 8 B 2/01, NVwZ 2001 S. 918; BVerwG, Beschluss v. 5.07.2000, 8 B 119/00, NVwZ 2000 S. 1297 = DVBl 2001 S. 307; BVerwG, Urteil v. 23.4.1985, 9 C 48/84, BVerwGE 71 S. 213, 218 f; so auch die Begründung des Regierungsentwurfs BT-Drs. 16/7716 Teil B zu Nr. 17). Dieser Auffassung zu den inhaltlichen Anforderungen hat sich das BSG angeschlossen (Urteil v. 1.7.2010, B 13 R 58/09 R, BSGE 106 S. 254).
Hinreichend konkrete Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzinteresses können sich aus einem Verhalten des Klägers ergeben, das auf sein Desinteresse an der weiteren Rechtsverfolgung schließen lässt. Das kann ein fallbezogenes Verhalten sein oder eine Verletzung von prozessualen Mitwirkungspflichten. Ein sicherer Schluss ist nicht erforderlich (BVerwG, Beschluss v. 7.7.2005, 10 BN 1/05, m. w. N.; anders: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 22.12.2010, L 1 KR 360/09, juris). Zweifel können sich insbesondere ergeben, wenn sich der Rechtsstreit in der Hauptsache faktisch bereits erledigt hat, etwa durch Zeitablauf, so dass kein Rechtsschutzinteresse des Klägers mehr erkennbar ist. Nicht ausreichend ist allein die Aussichtslosigkeit des Verfahrens, auch nicht, wenn der Kläger hierauf hingewiesen worden ist oder etwa Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussicht abgelehnt worden ist. Weiterhin können sich Zweifel vor allem daraus ergeben, dass das Gericht den Kläger zu einer Mitwirkungshandlung aufgefordert hat und der Kläger dem nicht (innerhalb angemessener Zeit) nachkommt. Nach dem BSG, Urteil v. 1.7.2010, B 13 R 58/09 R, BSGE 106, 254, setzt die Rücknahmefiktion den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist voraus. Entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalles. Das bezieht sich sowohl auf die zeitlichen als auch die inhaltlichen Anforderungen an die Erfüllung der Mitwirkungspflicht (vgl. BVerfG, Beschluss v. 16.12.2002, 2 BvR 654/02; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 20.4.2011, L 9 SO 48/09, juris). War eine Frist zur Nachholung der Mitwirkungshandlung gesetzt, ist diese auf jeden Fall abzuwarten, eventuell sogar noch ein weiterer Zeitraum, der sich nach den Umständen des Einzelfalles richtet. Dabei muss hinreichend deutlich sein, welche konkrete Verfahrenshandlung der Kläger vornehmen muss (LSG Bayern, Beschluss v. 13.7.2016, L 6 R 149/16). Auch ohne Fristsetzung kann die Mitwirkungspflicht derart verletzt sein, dass hinreichend konkrete Zweifel am Fortbestehen des Rechtschutzinteresses bestehen können (vgl. hierzu den Fall des BVerwG in dem Beschluss v. 7.7.2005: Unterlassen jeglicher Stellungnahme während eines Zeitraumes von insgesamt über 9 Monaten). Das Ausbleiben einer Klagebegründung allein genügt nicht; nach § 92 soll die Klage nur begründet werden, eine Verpflichtung besteht nicht (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 26.9.2011, L 13 SB 126/11 B PKH, Urteil v. 19.5.2011, L 13 SB 32/11, beide juris; vgl. hierzu auch BVerwGE 71 S. 213). Der Fall kann aber schon anders liegen, wenn der Kläger eine Begründung angekündigt hat oder wenn er zu einem bestimmten Vortrag aufgefordert worden ist, der das Gericht erst in die Lage versetzen soll, seiner Amtsermittlungspflicht nachzukommen. Bei der Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen ist zu beachten, dass ein Verstoß gegen § 102 Abs. 2 zu einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG führt. Es handelt sich um eine Ausnahmevorschrift, die eng auszulegen und anzuwenden ist.