1 Allgemeines
1.1 Historie, Sinn und Zweck
Rz. 1
§ 104 SGG ist zuletzt durch das Gesetz zur Änderung des Sachveständigenrechts und anderer Gesetze (SachvRuaÄndG) v. 11.10.2016 (BGBl. I S. 2222) mit Wirkung zum 15.10.2016 geändert worden. An Satz 1 ist der 2. HS angefügt worden, um in Übereinstimmung mit § 94 Satz 2 eine Regelung für die überlangen Gerichtsverfahren zu treffen. Die vorherigen Änderungen durch das SGGArbGÄndG ab dem 1.4.2008 sollten eine Angleichung an die VwGO erreichen. Bereits zum 1.4.2005 wurde die Möglichkeit der Übersendung eines elektronischen Dokuments i. S. d. § 65a berücksichtigt. Für die Zeit ab dem 1.1.2018 stellt das Gesetz zur Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs (BGBl. I 2017, 2208) sicher, dass die Übersendung einer elektronischen Akte der Übersendung einer beglaubigten Abschrift der Originalakte und damit der Originalakte selbst gleichsteht.
Rz. 2
Die Regelungen des § 104 dienen gemeinsam mit den Bestimmungen der §§ 106 ff. der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung. Vor allem die Aufforderung der Gegenseite zur Abgabe einer Stellungnahme soll die dem Vorsitzenden nach § 103 obliegende Aufklärung des Sachverhalts fördern. Darüber hinaus soll § 104 die Gewährung des rechtlichen Gehörs, § 62 SGG und Art. 103 Abs. 1 GG, sicherstellen.
Ähnliche Vorschriften sehen die verwaltungs- und finanzgerichtlichen Prozessordnungen vor, § 85 VwGO und § 71 FGO. Sie stellen die Form der Mitteilung der Klageschrift jedoch nicht wie in Satz 1 HS 1 in allen Fällen außer den Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens in das Ermessen des Vorsitzenden, sondern schreiben vielmehr eine Zustellung der Klageschrift vor. Im Gegensatz zum Zivilprozess ist die Zustellung im sozialgerichtlichen Verfahren in den Standardfällen ohne Bedeutung für die Klageerhebung sowie den Eintritt der Rechtshängigkeit. Während im Zivilprozess nach § 261 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 253 Abs. 1 ZPO die Rechtshängigkeit erst mit Zustellung der Klageschrift an den Prozessgegner beginnt, treten die Wirkungen der Rechtshängigkeit nach den §§ 90 und 94 Satz 1 HS 1 SGG bereits mit der Klageerhebung ein. In den ab dem 3.12.2011 eingeführten Verfahren wegen überlanger Verfahrensdauer hat der Gesetzgeber nunmehr in Satz 1 HS 2 die vorherige Rechtsprechung übernommen, dass hier eine Zustellung erforderlich ist. Über § 202 gelten insoweit die Regelungen der ZPO.
1.2 Anwendungsbereich
Rz. 3
§ 104 gilt entsprechend über die allgemeinen Verweisungsnormen § 153 Abs. 1 und § 165 für die Mitteilung der Rechtsmittelschrift im Berufungs- sowie im Revisionsverfahren. Nach § 155 Abs. 1 (i. V. m. § 165) kann der Vorsitzende die Aufgaben nach § 104 auf einen beisitzenden Berufsrichter übertragen, soweit dies nicht bereits durch Beschluss nach § 21g GVG vor Beginn des Geschäftsjahres geschehen ist. Eine Übertragung muss in den für die einzelne Streitsache angelegten Akten festgehalten werden (BSG, Breithaupt 1956 S. 428).
2 Rechtspraxis
2.1 Übersendung der Abschrift
Rz. 4
Der Vorsitzende hat den übrigen Beteiligten eine Abschrift der Klage zu übermitteln. Er unterliegt der Verpflichtung ohne Ausnahme, selbst wenn die Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist. Es wird allerdings auch die Auffassung vertreten, die Übersendung der Abschrift könne ausnahmsweise unterbleiben, wenn ein prozessunfähiger Querulant Klage erhebt, da in einem solchen Fall kein besonderer Vertreter nach § 72 Abs. 1 bestellt werden könne (Peters/Sautter/Wolff, § 104 Rn. 12). Dagegen spricht jedoch nicht nur der Wortlaut; es dürfte auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift sowie dem Gebot des rechtlichen Gehörs widersprechen, den übrigen Beteiligten jede Gelegenheit zur Äußerung zu nehmen (vgl. hierzu auch BSG, Beschluss v. 12.2.2015, B 10 ÜG 8/14 B).
Rz. 5
Frei steht dem Vorsitzenden im Regelfall nach Satz 1 HS 1 die Art und Weise, wie er die Abschriften übermittelt. Er kann sie entweder zustellen, vgl. Satz 2 der Vorschrift, oder sie anderweitig "mitteilen". Dabei ist auch eine persönliche Übergabe der Abschriften nicht ausgeschlossen. Der durch das Justizkommunikationsgesetz mit Wirkung zum 1.4.2005 von "übersenden" in "übermitteln" abgeänderte Wortlaut ist weit gefasst und bereits zuvor war der Wortlaut nach seinem Sinn und Zweck nicht so eng auszulegen, dass ausschließlich eine Übersendung per Post der Bestimmung genügt. In Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens nach § 198 GVG muss nach Satz 1 HS 2 nunmehr zugestellt werden.
Rz. 6
In der ersten Instanz ist es allein Aufgabe des Vorsitzenden, die Übermittlung der Klageschrift vorzunehmen. Die Aufgabe kann nicht an einen anderen, insbesondere nicht an die Geschäftsstelle, übertragen werden. Mit der Übermittlung der Klageschrift soll der Vorsitzende zugleich weitere prozessfördernde Maßnahmen treffen. Er hat von Prozessbeginn an darauf hinzuwirken, dass der Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung beendet werden kann, § 106 Abs. 2. Es kann daher im Einzelfall sinnvoll sein, bereits mit der Übermittlung der Klageschrift Fragen an die Beteiligten zu stellen, Auflagen zu machen oder ähnliche Maßnahmen ...