Rz. 3
Den Umfang und die Intensität des Hinwirkens i. S. d. § 106 Abs. 1 wird der Vorsitzende unter Berücksichtigung der individuellen und gerade auch intellektuellen Disposition der Beteiligten seines Streitverfahrens bestimmen. Er wird vor allem auch danach differenzieren, ob der Betreffende fachkundig vertreten ist oder das Verfahren unvertreten betreibt.
Rz. 4
Der Vorsitzende hat auf die Beseitigung von Formfehlern hinzuwirken. Bei einer nicht unterschriebenen Berufung wird er etwa den Hinweis erteilen, dass das Schriftformerfordernis des § 151 die Unterschrift erfordert, und dringend anregen, die Unterschrift innerhalb der Berufungsfrist noch zu leisten. Bei Ausbleiben der Prozessvollmacht wird er die Beibringung anmahnen, verbunden mit dem rechtlichen Hinweis, dass die Klage ansonsten als unzulässig abgewiesen werden müsste.
Rz. 5
Die Hinwirkenspflicht des Vorsitzenden bezüglich der Erläuterung unklarer Anträge und Stellung sachdienlicher Anträge relativiert sich im Lichte von § 123, nach dessen Inhalt das Gericht ohnehin nicht an die Fassung der Anträge gebunden ist, sondern über die vom Kläger erhobenen Ansprüche entscheidet. § 106 Abs. 1 hat gleichwohl eine eigenständige Funktion. Zum einen verhindert eine Besprechung der Anträge eine – letztlich überflüssige – Auseinandersetzung im Urteil mit einem nicht sachdienlichen Antrag und eine wortreiche Darlegung, welcher Antrag dem gemäß § 123 allein maßgebenden Begehren entsprochen hätte. Zum anderen beinhaltet eine Besprechung des Antrags oftmals die Besprechung des Begehrens als solches. Gerade in einer nicht sachdienlichen Antragsfassung kommt oft zum Ausdruck, dass die Beteiligten sich ein falsches Bild davon machen, was das betriebene Streitverfahren überhaupt leisten kann. Der Vorsitzende hat dann die Gelegenheit wahrzunehmen, entweder schriftlich oder – sofern etwa mit einem Richterbrief auf sinnvolle Art nicht leistbar – in einem Termin i. S. d. § 106 Abs. 3 Nr. 7 den zulässigen Streitgegenstand einzugrenzen.
Die unterlassene Hinwirkung auf einen sachdienlichen Antrag stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel allerdings nur dann dar, wenn sie sich dem Gericht ausgehend von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aufdrängen musste (vgl. LSG Brandenburg, Urteil v. 28.8.2000, L 7 U 32/00, HVBG-INFO 2001 S. 2564 ff.).
Rz. 6
Der Vorsitzende hat ferner auf die Ergänzung ungenügender Angaben tatsächlicher Art und auf die Abgabe aller für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen hinzuwirken. Die Vorschrift verlangt von dem Vorsitzenden, bereits vor der mündlichen Verhandlung eine rechtliche Würdigung vorzunehmen und auf Grundlage des Ergebnisses zu sichten, ob der bis dahin dem Gericht unterbreitete Tatsachenvortrag der Beteiligten ausreichend erscheint. Wie alle zur mündlichen Verhandlung hinführenden Vorbereitungsmaßnahmen erfolgt das Hinwirken des Vorsitzenden damit indes auf einer Grundlage, von der er nicht sicher wissen kann, ob sie der rechtlichen Betrachtung des Spruchkörpers insgesamt entspricht. Aus § 106 Abs. 1 lässt sich auch nicht eine Pflicht des Vorsitzenden herleiten, vor der mündlichen Verhandlung die Beteiligten über die Beweiswürdigung des Gerichts zu unterrichten (vgl. BSG, Beschluss v. 28.7.2000, B 12 P 2/00 B, juris; BSG, Beschluss v. 9.2.2011, B 11 AL 71/10 B, juris). Bei Rechtsfragen, die vernünftigerweise durchaus unterschiedlich beantwortet werden können, ist es sinnvoll, den Hinweis an die Beteiligten möglichst weit zu formulieren bzw. die Beteiligten "vorsorglich" zu einem bestimmten (nur möglicherweise entscheidungserheblichen) Sachverhalt vortragen zu lassen. Die Hinweispflicht des Vorsitzenden geht nicht soweit, dass er Beteiligten prozesstaktische Hinweise zu geben hat; andernfalls besteht sogar die Gefahr, wegen begründeter Besorgnis der Befangenheit vom Verfahren ausgeschlossen zu werden. So muss etwa das LSG bei einem Beteiligten, der das Vorhandensein von Zeugen für eine entscheidungserhebliche Tatsache behauptet, nicht auf die Stellung eines ggf. wegen § 160 Abs. 2 Nr. 3 bedeutsamen Beweisantrags hinwirken (BSG, Beschluss v. 5.5.2010, B 5 R 26/10 B, juris; BSG, Beschluss v. 21.9.2010, B 12 KR 17/10 B, juris; BSG, Beschluss v. 9.2.2011, B 11 AL 71/10 B, juris). Das Gericht muss auch nicht auf die Möglichkeit eines Antrages nach § 109 SGG hinweisen (BSG, Beschluss v. 22.7.2010, B 13 R 585/09 B, juris). Bei anwaltlich vertretenen Klägern gilt insgesamt, dass das Gesetz dem Rechtanwalt die Fähigkeit unterstellt, gesetzliche Formerfordernisse einzuhalten. Eine gerichtliche Hinweispflicht auf betreffende Mängel besteht dann nicht (BSG, Beschluss v. 21.7.2010, B 7 AL 60/10 B, juris).
Wohl aber bejaht das BSG eine Hinweispflicht, wenn ein Kläger den Ablauf des sozialgerichtlichen Verfahrens in erheblicher Weise fehlerhaft einschätzt (BSG, Beschluss v. 2.10.2008, B 9 VS 3/08 B, SozR 4-1500 § 124 Nr. 2).