1 Allgemeines

 

Rz. 1

§ 106 bestimmt, welche Handlungen der Vorsitzende vor Durchführung der mündlichen Verhandlung vorzunehmen hat. Für die mündliche Verhandlung selbst gilt § 112. § 106 konkretisiert den Untersuchungsgrundsatz des § 103 und ist damit eine der zentralen Vorschriften des SGG. Die Vorschrift wird seit dem 1.4.2008 ergänzt durch § 106a, der durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes v. 26.3.2008 (BGBl. I S. 444) geschaffen worden ist.

2 Rechtspraxis

2.1 Zweck der Vorschrift

 

Rz. 2

§ 106 Abs. 1 ähnelt in weiten Bereichen § 112 Abs. 2, der Aussagen für die mündliche Verhandlung trifft. Die Vorschrift gilt im Grundsatz in allen Instanzen. Sinn und Zweck des § 106 ist es, den Beteiligten die Möglichkeit einzuräumen, ihr Begehren so effektiv wie möglich an das Gericht heranzubringen, etwaige formale Hindernisse zu beseitigen und damit Raum für die materiell-rechtliche Bearbeitung der Streitsache zu schaffen. Die Vorschrift dient darüber hinaus der Verwirklichung des Anspruchs der Beteiligten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG). Durch ein Hinwirken des Gerichts etwa auf die Abgabe wesentlicher Erklärungen oder die Ergänzung von bereits gemachten Angaben wird den Beteiligten offenbart, was konkret noch vorzutragen ist, um das Gericht von der Berechtigung des zur Beurteilung gestellten Begehrens zu überzeugen oder es zumindest zu veranlassen, (weitere) Ermittlungen anzustellen. Die Vorschrift bezweckt aber gerade auch die Beschleunigung des Verfahrens. Insbesondere in der Zusammenschau mit Abs. 2 wird deutlich, dass der Gesetzgeber dazu anhalten will, möglichst vor der mündlichen Verhandlung den Sachverhalt so aufzubereiten, dass nach der Verhandlung in der Sache entschieden werden kann und nicht vertagt werden muss. Des Weiteren steht § 106 Abs. 1 im Interesse eines möglichst effektiven Arbeitsablaufes bezüglich der Dienstgeschäfte des erkennenden Gerichts. Durch das Hinwirken seitens des Vorsitzenden sollen die Beteiligten zur Kommunikation angehalten werden und dazu gemahnt werden, ihm die Informationen zu unterbreiten, die er sich ansonsten auf mitunter viel mühseligere Weise beschaffen müsste. Sehr zweifelhaft ist es, ob die Vorschrift auch der Wahrheitsfindung dient. Unangemessen weitgehend erscheint in dieser Allgemeinheit die Auffassung des BSG, die Gerichte seien verpflichtet, "in geeigneten Fällen" den Sachvortrag der Beteiligten bei der Überzeugungsbildung zu verwenden, wenn er ihnen "glaubhaft" erscheine (BSG, Beschluss v. 10.02.1998, B 2 U 2/98 B, juris; ähnlich LSG Brandenburg, Urteil v. 4.2.2005, L 28 AL 167/02, juris). Die Glaubhaftmachung kann die gesetzliche Ermittlungsarbeit zum Zwecke der Wahrheitsfindung nicht ersetzen (vgl. Kommentierung zu § 103 Rn. 4)

2.2 § 106 Abs. 1

 

Rz. 3

Den Umfang und die Intensität des Hinwirkens i. S. d. § 106 Abs. 1 wird der Vorsitzende unter Berücksichtigung der individuellen und gerade auch intellektuellen Disposition der Beteiligten seines Streitverfahrens bestimmen. Er wird vor allem auch danach differenzieren, ob der Betreffende fachkundig vertreten ist oder das Verfahren unvertreten betreibt.

 

Rz. 4

Der Vorsitzende hat auf die Beseitigung von Formfehlern hinzuwirken. Bei einer nicht unterschriebenen Berufung wird er etwa den Hinweis erteilen, dass das Schriftformerfordernis des § 151 die Unterschrift erfordert, und dringend anregen, die Unterschrift innerhalb der Berufungsfrist noch zu leisten. Bei Ausbleiben der Prozessvollmacht wird er die Beibringung anmahnen, verbunden mit dem rechtlichen Hinweis, dass die Klage ansonsten als unzulässig abgewiesen werden müsste.

 

Rz. 5

Die Hinwirkenspflicht des Vorsitzenden bezüglich der Erläuterung unklarer Anträge und Stellung sachdienlicher Anträge relativiert sich im Lichte von § 123, nach dessen Inhalt das Gericht ohnehin nicht an die Fassung der Anträge gebunden ist, sondern über die vom Kläger erhobenen Ansprüche entscheidet. § 106 Abs. 1 hat gleichwohl eine eigenständige Funktion. Zum einen verhindert eine Besprechung der Anträge eine – letztlich überflüssige – Auseinandersetzung im Urteil mit einem nicht sachdienlichen Antrag und eine wortreiche Darlegung, welcher Antrag dem gemäß § 123 allein maßgebenden Begehren entsprochen hätte. Zum anderen beinhaltet eine Besprechung des Antrags oftmals die Besprechung des Begehrens als solches. Gerade in einer nicht sachdienlichen Antragsfassung kommt oft zum Ausdruck, dass die Beteiligten sich ein falsches Bild davon machen, was das betriebene Streitverfahren überhaupt leisten kann. Der Vorsitzende hat dann die Gelegenheit wahrzunehmen, entweder schriftlich oder – sofern etwa mit einem Richterbrief auf sinnvolle Art nicht leistbar – in einem Termin i. S. d. § 106 Abs. 3 Nr. 7 den zulässigen Streitgegenstand einzugrenzen.

Die unterlassene Hinwirkung auf einen sachdienlichen Antrag stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel allerdings nur dann dar, wenn sie sich dem Gericht ausgehend von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aufdrängen musste (vgl. LSG Brandenburg, Urteil v. 28.8....

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