2.1 Aussetzung bei Musterverfahren

 

Rz. 3

Absatz 1 ermächtigt das Gericht, eines oder mehrere Verfahren als sog. Musterverfahren vorab durchzuführen, wenn die Rechtmäßigkeit einer behördlichen Maßnahme Gegenstand von mehr als 20 Verfahren ist. Indes müssen diese Verfahren im Gegensatz zum Tatbestand des § 93a Abs. 1 VwGO an dem betreffenden Gericht selbst anhängig sein. Es genügt nicht eine Anhängigkeit verteilt auf verschiedene Gerichte.

 

Rz. 4

Es muss sich um ein und dieselbe behördliche Maßnahme handeln. Tatbestandlich nicht erfasst wird die Situation, dass von verschiedenen Klägern Verwaltungsakte angefochten werden, die nur im Wesentlichen gleichartig sind. In solchen sog. unechten Massenverfahren verbleibt es bei dem Grundsatz, dass die Aussetzung eines Rechtsstreits nicht bereits deshalb möglich ist, weil die in dem Rechtsstreit zu entscheidende Rechtsfrage auch in einem zeitgleich anhängigen Verfahren anderer Parteien zu entscheiden ist. In Betracht zu ziehen ist in solchen Fällen allein die – antragsgebundene – Anordnung des Ruhens des Verfahrens (vgl. Kommentierung in Rz. 7 zu § 114 und die dortigen Nachweise aus der Rspr.).

 

Rz. 5

Das Gericht hat die Prüfung anzustellen, ob sich eines der bei ihm anhängigen Verfahren überhaupt zur Durchführung als Musterverfahren eignet. Ist kein geeignetes Verfahren anhängig, so hat eine Aussetzung anderer Verfahren zu unterbleiben.

Auch wenn ein geeignetes Verfahren vorhanden ist, ist das Gericht keineswegs verpflichtet, die übrigen Verfahren auszusetzen. Die Aussetzung steht dem Gericht vielmehr in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens anheim. Entscheidet sich das Gericht für die Aussetzung, so hat es nach Maßgabe von Abs. 1 Satz 2 zuvor rechtliches Gehör zu gewähren. Der Aussetzungsbeschluss ist sodann gemäß Abs. 1 Satz 3 unanfechtbar.

2.2 Fortführung der ausgesetzten Verfahren

 

Rz. 6

Absatz 2 Satz 1 ermächtigt das Gericht, über die ausgesetzten Verfahren durch Beschluss zu entscheiden, wenn über das oder die Musterverfahren rechtskräftig entschieden ist. Zuvor hat das Gericht zu prüfen, ob die ausgesetzten Verfahren nicht etwa wesentliche Besonderheiten tatsächlicher oder rechtlicher Art gegenüber dem bzw. den Musterverfahren aufweisen und ob der Sachverhalt geklärt erscheint. Diese Prüfung wird das Gericht vernünftigerweise indes bereits innerhalb der Ermessensentscheidung nach Abs. 1 Satz 1 vorgenommen haben. Erscheint der Sachverhalt noch ungeklärt oder sind wesentliche Unterschiede in den Sachverhalten festzustellen, die den Verfahren zugrunde liegen, wird das Gericht sich bereits gegen eine Durchführung von Musterverfahren überhaupt entschieden haben. Es ist allerdings durchaus denkbar, dass sich Besonderheiten tatsächlich erst im Nachhinein zeigen.

Von wesentlichen Besonderheiten tatsächlicher oder rechtlicher Art ist regelmäßig dann auszugehen, wenn in den ausgesetzten Verfahren neue, in den Musterverfahren noch nicht angesprochene Rechts- oder Tatsachenfragen aufgeworfen werden, deren Beantwortung das in dem/den entschiedenen Verfahren gewonnene Ergebnis in Zweifel ziehen oder jedenfalls seine Übertragbarkeit als problematisch erscheinen lassen könnte (BVerwG, Teilbeschluss v. 1.11.2007, 4 A 1009/07, 4 A 1009/07 [4 A 1014/04, 4 A 1010/05, 4 A 1023/06)], juris; BVerwG, Beschluss v. 18.4.2007, 4 A 1003/07, 4 A 1003/07 [4 A 1022/06)], juris; BVerwG, Beschluss v. 19.12.2006, 4 A 1053/06, 4 A 1053/06 [4 A 1041/04)], Buchholz 310 § 93a VwGO Nr. 1).

 

Rz. 7

Das Gericht muss einstimmig zu der Einschätzung gelangen, dass der Sachverhalt geklärt ist und wesentliche Besonderheiten nicht vorliegen. Ist die erforderliche Einstimmigkeit erzielt worden, sind die Beteiligten zu der beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss anzuhören. Die Anhörungspflicht verfolgt im Wesentlichen den Zweck, den Beteiligten die Möglichkeit zu verschaffen, auf tatsächlich oder vermeintlich vorhandene Besonderheiten ihres Falls hinzuweisen und Bedenken gegen die in dem/den Musterverfahren getroffene(n) Entscheidung(en) vorzutragen (BT-Drs. 11/7030 zu § 93a VwGO).

Das Gericht ist letztlich indes keineswegs verpflichtet, die Beschlussform zu wählen. Es entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen, ob es durch Beschluss entscheidet oder doch in herkömmlicher Weise durch Urteil. Das Gericht ist auch keineswegs an das Ergebnis des/der Musterverfahren(s) gebunden.

 

Rz. 8

Absatz 2 stellt in seinen Sätzen 2 und 3 Regeln für den Umgang mit den in dem/den Musterverfahren gewonnenen Ermittlungsergebnissen auf. Diese Regeln besitzen letztlich allein deklaratorischen Charakter. Bereits der Untersuchungsgrundsatz nach § 103 ermöglicht es nicht nur, sondern gebietet es, sämtliche tatsächlich und rechtlich zur Verfügung stehenden Mittel zur Wahrheitsfindung einzusetzen. Das Gericht ist insbesondere grundsätzlich befugt, Ermittlungsergebnisse, die in anderen Verfahren gewonnen worden sind, in das betreffende aktuelle Verfahren einzuführen, ohne dass es sich bei diesen anderen Verfahren um Musterverfahren i. S. d. hiesigen Vorschrift handeln muss. Ist mit der Einführung auch für das aktuelle Verfahren ei...

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