Rz. 6
Absatz 2 Satz 1 ermächtigt das Gericht, über die ausgesetzten Verfahren durch Beschluss zu entscheiden, wenn über das oder die Musterverfahren rechtskräftig entschieden ist. Zuvor hat das Gericht zu prüfen, ob die ausgesetzten Verfahren nicht etwa wesentliche Besonderheiten tatsächlicher oder rechtlicher Art gegenüber dem bzw. den Musterverfahren aufweisen und ob der Sachverhalt geklärt erscheint. Diese Prüfung wird das Gericht vernünftigerweise indes bereits innerhalb der Ermessensentscheidung nach Abs. 1 Satz 1 vorgenommen haben. Erscheint der Sachverhalt noch ungeklärt oder sind wesentliche Unterschiede in den Sachverhalten festzustellen, die den Verfahren zugrunde liegen, wird das Gericht sich bereits gegen eine Durchführung von Musterverfahren überhaupt entschieden haben. Es ist allerdings durchaus denkbar, dass sich Besonderheiten tatsächlich erst im Nachhinein zeigen.
Von wesentlichen Besonderheiten tatsächlicher oder rechtlicher Art ist regelmäßig dann auszugehen, wenn in den ausgesetzten Verfahren neue, in den Musterverfahren noch nicht angesprochene Rechts- oder Tatsachenfragen aufgeworfen werden, deren Beantwortung das in dem/den entschiedenen Verfahren gewonnene Ergebnis in Zweifel ziehen oder jedenfalls seine Übertragbarkeit als problematisch erscheinen lassen könnte (BVerwG, Teilbeschluss v. 1.11.2007, 4 A 1009/07, 4 A 1009/07 [4 A 1014/04, 4 A 1010/05, 4 A 1023/06)], juris; BVerwG, Beschluss v. 18.4.2007, 4 A 1003/07, 4 A 1003/07 [4 A 1022/06)], juris; BVerwG, Beschluss v. 19.12.2006, 4 A 1053/06, 4 A 1053/06 [4 A 1041/04)], Buchholz 310 § 93a VwGO Nr. 1).
Rz. 7
Das Gericht muss einstimmig zu der Einschätzung gelangen, dass der Sachverhalt geklärt ist und wesentliche Besonderheiten nicht vorliegen. Ist die erforderliche Einstimmigkeit erzielt worden, sind die Beteiligten zu der beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss anzuhören. Die Anhörungspflicht verfolgt im Wesentlichen den Zweck, den Beteiligten die Möglichkeit zu verschaffen, auf tatsächlich oder vermeintlich vorhandene Besonderheiten ihres Falls hinzuweisen und Bedenken gegen die in dem/den Musterverfahren getroffene(n) Entscheidung(en) vorzutragen (BT-Drs. 11/7030 zu § 93a VwGO).
Das Gericht ist letztlich indes keineswegs verpflichtet, die Beschlussform zu wählen. Es entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen, ob es durch Beschluss entscheidet oder doch in herkömmlicher Weise durch Urteil. Das Gericht ist auch keineswegs an das Ergebnis des/der Musterverfahren(s) gebunden.
Rz. 8
Absatz 2 stellt in seinen Sätzen 2 und 3 Regeln für den Umgang mit den in dem/den Musterverfahren gewonnenen Ermittlungsergebnissen auf. Diese Regeln besitzen letztlich allein deklaratorischen Charakter. Bereits der Untersuchungsgrundsatz nach § 103 ermöglicht es nicht nur, sondern gebietet es, sämtliche tatsächlich und rechtlich zur Verfügung stehenden Mittel zur Wahrheitsfindung einzusetzen. Das Gericht ist insbesondere grundsätzlich befugt, Ermittlungsergebnisse, die in anderen Verfahren gewonnen worden sind, in das betreffende aktuelle Verfahren einzuführen, ohne dass es sich bei diesen anderen Verfahren um Musterverfahren i. S. d. hiesigen Vorschrift handeln muss. Ist mit der Einführung auch für das aktuelle Verfahren ein Ermittlungsergebnis erzielt worden, welches es erlaubt, dieses Verfahren zu entscheiden, so kann das Gericht es auch selbstverständlich ablehnen, neuerliche – überflüssige – Ermittlungen einzuleiten (vgl. auch Kommentierung in Rn. 7 zu § 103). Unerlässlich ist nur, dass den Beteiligten rechtliches Gehör zu den eingeführten Ermittlungsergebnissen aus anderen Verfahren gewährt wird.
Rz. 9
Auch Abs. 2 Satz 4 besitzt letztlich keine eigene Aussagekraft. Ungeachtet der Tatsache, dass aus § 172 Abs. 2 inzidenter die Möglichkeit der Ablehnung eines Beweisantrages mittels eigenständigen Beschlusses hervorgeht, gibt es für das gesamte sozialgerichtliche Verfahren umgekehrt keine Vorschrift, die es gebietet, über einen Beweisantrag durch Beschluss zu entscheiden. Insofern beschreibt Abs. 2 Satz 4 nur die im sozialgerichtlichen Verfahren bestehende Selbstverständlichkeit, dass die Ablehnung eines Beweisantrags mit der Entscheidung in der Sache selbst verbunden werden kann.
Rz. 10
Gegen den Beschluss i. S. d. Abs. 2 Satz 1 gibt es nach Abs. 2 Satz 5 grundsätzlich das Rechtsmittel der Berufung (im Einzelfall das der Revision), nicht aber die Möglichkeit einer Beschwerde.
Hierüber ist nach Maßgabe von Abs. 2 Satz 6 in dem Beschluss zu belehren.