1 Allgemeines
Rz. 1
Die Vorschrift ist seit der ursprünglichen Fassung des SGG v. 1.1.1954 (BGBl. I 1953 S. 1239) unverändert geblieben. Das Vorhaben, § 123 zu ändern, um den Prüfungsumfang des Gerichts in Rechtsstreitigkeiten, deren Gegenstand die Höhe einer Sachleistung ist, an die zwischen den Beteiligten strittigen Anspruchselemente zu reduzieren (Referententwurf zum Vierten Gesetz zur Änderung des SGB IV), war zunächst aufgegeben worden (zur Kritik vgl. etwa Stellungnahme des Deutschen Richterbundes v. 19.4.2011). Ein erneuter Vorstoß des Bundesrates zur Begrenzung des gerichtlichen Prüfungsgegenstandes (u. a.) durch Einfügung eines Abs. 2 (BR-Drs. 184/16 Art. 1 Nr. 2) fand im Jahr 2016 erneut keine Zustimmung der Bundesregierung (vgl. BT-Drs. 18/8971 S. 14). Nicht anders erging es bisher dem nochmals eingebrachten Entwurf des Bundesrates (vgl. Stellungnahme des Bundesregierung BT-Drs. 19/1099 S. 11; zur Kritik an dem Entwurf und zur Alternativlösung über die Zulassung einer Elementenfeststellungsklage vgl. Schütz, ZRP 2018, 142). § 123 gilt in allen Rechtszügen für Urteile und auch für Beschlüsse, namentlich für solche im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes.
2 Rechtspraxis
2.1 Verfahrensgrundsätze
Rz. 2
In § 123 kommen bedeutsame Grundsätze des sozialgerichtlichen Verfahrens zum Ausdruck: Das Gericht muss über alle vom Kläger geltend gemachte Ansprüche entscheiden, wobei nicht die Fassung des Antrags, sondern der erhobene Anspruch maßgebend ist. Es darf dabei nicht über das Klagebegehren hinausgehen ("ne ultra petita") und nicht zum Nachteil des Klägers die Verwaltungsentscheidung (bzw. das vom ihm angefochtene Urteil) ändern ("Verböserungsverbot"; Einschränkungen/Ausnahmen Rz. 9 ff.).
§ 123 entspricht im Wesentlichen § 88 VwGO und § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO. Abweichend hiervon kann nach § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht etwas zugesprochen werden, was nicht beantragt worden ist.
2.2 Klärung des Klageziels
Rz. 3
Nach § 123 darf das Gericht nur über die vom Kläger erhobenen Ansprüche entscheiden. Auch im sozialgerichtlichen Verfahren wird der erhobene Anspruch als Streitgegenstand nach Inhalt und Umfang allein vom Kläger mit seiner Klage – seinem prozessualen Begehren – bestimmt (vgl. BSG, SozR 3-5555 § 15 EKV-Zahnärzte Nr. 1; BSG, SozR 3-1500 § 96 Nr. 9). Streitgegenstand ist nach der herrschenden prozessualen Theorie (vgl. B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, SGG, § 95 Rz. 5; Bley, in: GK, § 123 Anm. 2a; jeweils m. w. N.; Kopp/Schenke, § 90 Rz. 7), der auch das BSG in ständiger Rechtsprechung folgt (vgl. z. B. BSG, Urteil v. 28.3.2013, B 4 AS 12/12 R, Rz. 10; BSGE 18, 266; BSGE 21, 13, 15; BSG, SozR 3-5555 § 15 EKV-Zahnärzte Nr. 1; SozR 3-2200 § 1303 Nr. 4; SozR 3-1500 § 96 Nr. 9), der prozessuale Anspruch, nämlich das vom Kläger aufgrund eines bestimmten Sachverhalts an das Gericht gerichtete Begehren, eine – bestimmte oder bestimmbare – Rechtsfolge auszusprechen. Der Streitgegenstand ist demnach identisch mit dem erhobenen prozessualen Anspruch und wird bestimmt durch die erstrebte, im Klageantrag zum Ausdruck zu bringende Rechtsfolge sowie den Klagegrund – den Sachverhalt, aus dem sich die Rechtsfolge ergeben soll (vgl. auch BVerwGE 96, 24, 25 m. w. N.; BSG, SozR 3-1500 § 96 Nr. 9; BGHZ 117, 1, 5).
Der Kläger bestimmt somit das materiell-rechtliche oder prozessuale Ziel seiner Klage. Bereits seine Klageschrift muss gemäß § 92 Abs. 1 Satz 1 (in der ab 1.4.2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes v. 26.3.2008, BGBl. I S. 444; bis dahin hatte es sich um eine Sollvorschrift gehandelt) u. a. den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen und soll gemäß Satz 2 einen bestimmten Antrag enthalten. Die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung eines Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (BT-Drs. 16/7716 S. 22 zu Art. 1 Nr. 15 § 92]) verwendet (möglicherweise unreflektiert) die Begriffe "Gegenstand des Klagebegehrens" und "Streitgegenstand" synonym. Dabei ist in § 92 – wie in seiner Parallelvorschrift § 82 VwGO, an dem sich die Neufassung des § 92 orientiert hat – der Begriff des Streitgegenstands durch den des Gegenstandes des Klagebegehrens ersetzt worden (zu den Gründen vgl. Aulehner, in: Sodan/Ziekow, § 82 Rz. 2, 18). Dadurch ist verdeutlicht, dass – wie bisher (vgl. Rz. 3 der 3. Aufl.) – nicht der Streitgegenstand im technischen Sinne gemeint ist (vgl. zu § 82 VwGO auch Kopp/Schenke, § 82 Rz. 7). Weil weiterhin die Klage auch dann zulässig sein kann, wenn die Klageschrift keinen bestimmten Antrag enthält, und weil das klägerische Begehren, der "erhobene Anspruch", nicht immer mit der für eine gerichtliche Entscheidung erforderlichen Bestimmtheit zum Ausdruck kommen wird, muss das Gericht frühzeitig darauf hinwirken, dass der Kläger den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnet und einen Antrag formuliert.
An die Formulierung des Antrags ist das Gericht bei der gebotenen Klärung des Begehrens allerdings nicht gebunden. Auch dann, wenn ein bestimmter ...