2.2.1 Bedeutung
Rz. 3
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung besagt nicht, dass das Gericht willkürlich entscheiden könnte, sondern nur, dass es an gesetzliche Beweisregeln nur in den durch das Gesetz bezeichneten Fällen gebunden ist (vgl. § 286 Abs. 2 ZPO). Soweit also nicht ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln eingreifen, z. B. nach § 118 SGG i. V. m. §§ 415 ff. ZPO über die Beweiskraft bestimmter Urkunden oder nach § 122 SGG i. V. m. § 165 ZPO über die Beweiskraft des Protokolls, ist das Gericht in der Würdigung der jeweiligen Beweismittel frei (vgl. auch die Komm. unter Rz. 11 ff.). Dabei ist die Überzeugungskraft der einzelnen Beweismittel unter Berücksichtigung des Beteiligtenvortrags gegeneinander abzuwägen. Einzelnen Beweismitteln kommt dabei nicht per se ein höherer Beweiswert als anderen zu, entscheidend ist die inhaltliche Überzeugungskraft. Entscheidend ist auch nicht die (angebliche) Reputation eines Gutachters (BSG, Urteil v. 23.8.1966, 4 RJ 437/62, Rz. 33) oder die Frage, von wem ein Gutachten eingeholt worden ist (BSG, Urteil v. 22.4.2015, B 3 P 8/13 R, Rz. 25). Auch von Amts wegen eingeholten Gutachten kommt nicht automatisch ein höherer Beweiswert zu als solchen, die nach § 109 eingeholt worden sind (vgl. auch Giesbert, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 128 Rz. 55). Eine Verpflichtung zur Einholung eines "Obergutachtens" besteht nicht (BSG, Beschluss v. 20.2.2018, B 10 LW 3/17 B, Rz. 8), vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit einander entgegengesetzten Ergebnissen auseinanderzusetzen.
Gesetzliche Vermutungen schränken nur die Beweisbedürftigkeit ein, nicht aber die freie Beweiswürdigung (Greger, in: Zöller, ZPO, § 286 Rz. 3). Auch die Beweislast schränkt die freie Beweiswürdigung nicht ein, denn sie setzt erst ein, wenn trotz Beweiswürdigung Zweifel bleiben (Greger, in: Zöller, ZPO, § 286 Rz. 7). Aus dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung i. V. m. dem der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117) wird abgeleitet, dass sich das Berufungsgericht nicht ohne Weiteres über die aufgrund eines persönlichen Eindrucks des erstinstanzlichen Gerichts gewonnene Beurteilung der subjektiven Fahrlässigkeit des Klägers hinwegsetzen darf. Der Anwendung dieser Grundsätze stehe u. a. nicht entgegen, dass es im sozialgerichtlichen Verfahren das förmliche Beweismittel der Parteivernehmung nicht gebe. Die von der Rechtsprechung für Zeugen entwickelten Grundsätze gälten auch hier (vgl. BSG, Beschluss v. 28.11.2007, B 11a/7a AL 17/07 R).
Auch der Verstoß eines Beteiligten von seinen prozessualen Mitwirkungspflichten entbindet das Gericht nicht von seiner Amtsermittlungspflicht (vgl. Giesbert, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 128 Rz. 79). Erst, wenn feststeht, dass weitere Ermittlungen nicht mehr möglich bzw. unzumutbar sind, darf das Gericht unter Verkürzung der üblichen Beweisanforderungen (Schweigen vernünftiger Zweifel) darüber befinden, ob eine Tatsache trotz vorhandener Zweifel als bewiesen anzusehen ist (BSG, Urteil v. 2.9.2004, B 7 AL 88/03 R, Rz. 23). Dementsprechend kann z. B., wenn ein Gutachten nach Untersuchung aufgrund der Weigerung des Klägers nicht eingeholt werden kann, ggf. ein solches nach Aktenlage einzuholen sein.
2.2.2 Beweisanforderungen
2.2.2.1 Vollbeweis
Rz. 4
Beweispflichtige Tatsachen bedürfen grundsätzlich des Vollbeweises, soweit sich aus dem materiellen Recht im Einzelfall kein anderer Beweismaßstab ergibt. Eine absolute Gewissheit ist regelmäßig nicht möglich und auch nicht erforderlich (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 128 Rz. 3b). In der Regel verlangt das Gesetz für den Beweis die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSGE 45, 285; BSG, USK 8985). Eine Tatsache ist danach bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falls nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei voller Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil v. 24.11.2010, B 11 AL 35/09 R).
2.2.2.2 Wahrscheinlichkeit
Rz. 5
Gegenüber dem Vollbeweis räumen bestimmte gesetzliche Vorschriften dem Anspruchsberechtigten ausdrücklich Milderungen der Beweisanforderungen ein. So begnügt sich der Gesetzgeber etwa in § 1 Abs. 3 BVG (und in Parallelbestimmungen des sozialen Entschädigungsrechts) für den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Schädigung und einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge mit dem Beweisgrad der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit. Hinreichende Wahrscheinlichkeit ist auch in der gesetzlichen Unfallversicherung nach der Rechtsprechung (vgl. z. B. BSG, Urteil v. 24.7.2012, B 2 U 9/11 R, Rz. 64) für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Unfallkausalität und haftungsbegrün...