1 Allgemeines
Rz. 1
Die Vorschrift, die mit § 108 VwGO übereinstimmt, ist seit Inkrafttreten des SGG unverändert geblieben. Sie betrifft die Grundlagen der richterlichen Entscheidung, beinhaltet den Grundsatz der freien Beweiswürdigung, konkretisiert den grundrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör und bestimmt die Anforderungen an die Urteilsbegründung. Sie ist damit eine der zentralen Vorschriften des SGG.
§ 128 findet gemäß § 105 Abs. 1 Satz 3 ebenso auf Gerichtsbescheide Anwendung. Nach § 142 Abs. 1 gilt § 128 Abs. 1 Satz 1 für alle Beschlüsse, also auch für Beschlüsse in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes oder für Beschlüsse nach § 153 Abs. 4 oder § 158.
2 Rechtspraxis
2.1 Gesamtergebnis des Verfahrens
Rz. 2
Das Gericht muss sich auf dem Wege zur Entscheidung zunächst Klarheit darüber verschaffen, was das Begehren des Klägers ist und was er zu dessen Begründung vorbringt. Hiervon, von dem Verteidigungsvorbringen der Beklagten und den tatbestandlichen Voraussetzungen der als streitentscheidend erkannten Normen hängt ab, welche Tatsachen für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich, also entscheidungserheblich sind. Als wesentlich lässt sich eine Tatsache bezeichnen, wenn sich aus ihr ein Tatbestandsmerkmal der anzuwendenden Norm ergibt oder mittelbar auf Vorliegen oder Nichtvorliegen einer unmittelbar erheblichen Tatsache geschlossen werden kann (vgl. B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, § 103 Rz. 4a; vgl. auch BSGE 77, 140). Diese entscheidungserheblichen Tatsachen erforscht das Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren von Amts wegen (§§ 103, 106) und umfassend. Daneben ist auch § 109 zu beachten, wonach ein von dem Kläger bestimmter Arzt gutachtlich zu hören ist.
Das Gericht muss diejenigen Ermittlungen durchführen, zu denen es sich nach der Sach- und Rechtslage gedrängt fühlen muss (BSG, Beschluss v. 20.9.2007, B 5a/5 R 262/07 B, Rz. 4). Es hat dabei von sämtlichen Ermittlungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen (BSG, Beschluss v. 15.8.2012, B 6 KA 3/12 B, Rz. 11; vgl. auch die Komm. zu § 103 Rz. 6). Es entscheidet schließlich nach seiner freien Überzeugung, die es gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewinnt, wie es sich aufgrund der mündlichen Verhandlung bzw. – wenn ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 124 Abs. 2, § 126) – nach dem gesamten Akteninhalt darstellt. Bei der Entscheidung zu berücksichtigen ist deshalb nicht nur das Ergebnis einer förmlichen Beweisaufnahme (z. B. durch Zeugenvernehmung oder Sachverständigengutachten), sondern auch der schriftliche und mündliche Vortrag der Beteiligten zu Tatsachen wie Rechtsfragen, der Inhalt eingeholter Auskünfte und beigezogener Akten und Urkunden, der Sachbericht des Vorsitzenden oder Berichterstatters (§ 112 Abs. 1), der Eindruck, den Beteiligte und Zeugen in der Verhandlung hinterlassen haben, sonstige Wahrnehmungen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung usw. Auf offenkundige Tatsachen, die allen Beteiligten gegenwärtig sind und von denen alle Beteiligten wissen, dass sie für die Entscheidung erheblich sind, kann das Gericht seine Entscheidung auch ohne vorherigen Hinweis stützen (Schmidt, in: Eyermann, VwGO, § 108 Rz. 18). Auch übereinstimmendes oder unbestrittenes Beteiligtenvorbringen kann ohne weitere Ermittlungen in diese Richtung Entscheidungsgrundlage sein (BSG, Urteil v. 3.6.2004, B 11 AL 71/03 R, Rz. 23).
Gerichtskundige Tatsachen können dagegen nur verwertet werden, wenn die Beteiligten auf die Gerichtsbekanntheit der Tatsache hingewiesen worden sind und ihnen Gelegenheit gegeben wurde, sich dazu zu äußern (vgl. BSG, KOV 1974, 111; BSG, SozR 1500 § 128 Nr. 4, 6). Gesamtergebnis des Verfahren ist mithin alles, aber auch nur das, was Gegenstand der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs. 1) bzw., wenn auf diese nach § 124 Abs. 2 oder § 126 verzichtet worden ist, des entsprechenden schriftlichen Verfahrens gewesen ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 108 Rz. 2).
2.2 Grundsatz der freien Beweiswürdigung
2.2.1 Bedeutung
Rz. 3
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung besagt nicht, dass das Gericht willkürlich entscheiden könnte, sondern nur, dass es an gesetzliche Beweisregeln nur in den durch das Gesetz bezeichneten Fällen gebunden ist (vgl. § 286 Abs. 2 ZPO). Soweit also nicht ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln eingreifen, z. B. nach § 118 SGG i. V. m. §§ 415 ff. ZPO über die Beweiskraft bestimmter Urkunden oder nach § 122 SGG i. V. m. § 165 ZPO über die Beweiskraft des Protokolls, ist das Gericht in der Würdigung der jeweiligen Beweismittel frei (vgl. auch die Komm. unter Rz. 11 ff.). Dabei ist die Überzeugungskraft der einzelnen Beweismittel unter Berücksichtigung des Beteiligtenvortrags gegeneinander abzuwägen. Einzelnen Beweismitteln kommt dabei nicht per se ein höherer Beweiswert als anderen zu, entscheidend ist die inhaltliche Überzeugungskraft. Entscheidend ist auch nicht die (angebliche) Reputation eines Gutachters (BSG, Urteil v. 23.8.1966, 4 RJ 437/62, Rz. 33) oder die Frage, von wem ein Gutachten eingeholt worden ist (BSG, Urteil v. ...