Rz. 3
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung besagt nicht, dass das Gericht willkürlich entscheiden könnte, sondern nur, dass es an gesetzliche Beweisregeln nur in den durch das Gesetz bezeichneten Fällen gebunden ist (vgl. § 286 Abs. 2 ZPO). Soweit also nicht ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln eingreifen, z. B. nach § 118 SGG i. V. m. §§ 415 ff. ZPO über die Beweiskraft bestimmter Urkunden oder nach § 122 SGG i. V. m. § 165 ZPO über die Beweiskraft des Protokolls, ist das Gericht in der Würdigung der jeweiligen Beweismittel frei (vgl. auch die Komm. unter Rz. 11 ff.). Dabei ist die Überzeugungskraft der einzelnen Beweismittel unter Berücksichtigung des Beteiligtenvortrags gegeneinander abzuwägen. Einzelnen Beweismitteln kommt dabei nicht per se ein höherer Beweiswert als anderen zu, entscheidend ist die inhaltliche Überzeugungskraft. Entscheidend ist auch nicht die (angebliche) Reputation eines Gutachters (BSG, Urteil v. 23.8.1966, 4 RJ 437/62, Rz. 33) oder die Frage, von wem ein Gutachten eingeholt worden ist (BSG, Urteil v. 22.4.2015, B 3 P 8/13 R, Rz. 25). Auch von Amts wegen eingeholten Gutachten kommt nicht automatisch ein höherer Beweiswert zu als solchen, die nach § 109 eingeholt worden sind (vgl. auch Giesbert, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 128 Rz. 55). Eine Verpflichtung zur Einholung eines "Obergutachtens" besteht nicht (BSG, Beschluss v. 20.2.2018, B 10 LW 3/17 B, Rz. 8), vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit einander entgegengesetzten Ergebnissen auseinanderzusetzen.
Gesetzliche Vermutungen schränken nur die Beweisbedürftigkeit ein, nicht aber die freie Beweiswürdigung (Greger, in: Zöller, ZPO, § 286 Rz. 3). Auch die Beweislast schränkt die freie Beweiswürdigung nicht ein, denn sie setzt erst ein, wenn trotz Beweiswürdigung Zweifel bleiben (Greger, in: Zöller, ZPO, § 286 Rz. 7). Aus dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung i. V. m. dem der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117) wird abgeleitet, dass sich das Berufungsgericht nicht ohne Weiteres über die aufgrund eines persönlichen Eindrucks des erstinstanzlichen Gerichts gewonnene Beurteilung der subjektiven Fahrlässigkeit des Klägers hinwegsetzen darf. Der Anwendung dieser Grundsätze stehe u. a. nicht entgegen, dass es im sozialgerichtlichen Verfahren das förmliche Beweismittel der Parteivernehmung nicht gebe. Die von der Rechtsprechung für Zeugen entwickelten Grundsätze gälten auch hier (vgl. BSG, Beschluss v. 28.11.2007, B 11a/7a AL 17/07 R).
Auch der Verstoß eines Beteiligten von seinen prozessualen Mitwirkungspflichten entbindet das Gericht nicht von seiner Amtsermittlungspflicht (vgl. Giesbert, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 128 Rz. 79). Erst, wenn feststeht, dass weitere Ermittlungen nicht mehr möglich bzw. unzumutbar sind, darf das Gericht unter Verkürzung der üblichen Beweisanforderungen (Schweigen vernünftiger Zweifel) darüber befinden, ob eine Tatsache trotz vorhandener Zweifel als bewiesen anzusehen ist (BSG, Urteil v. 2.9.2004, B 7 AL 88/03 R, Rz. 23). Dementsprechend kann z. B., wenn ein Gutachten nach Untersuchung aufgrund der Weigerung des Klägers nicht eingeholt werden kann, ggf. ein solches nach Aktenlage einzuholen sein.