Rz. 11
Die vom Tatsachengericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 frei vorzunehmende Würdigung darf das Revisionsgericht nur darauf prüfen, ob das Tatsachengericht die Grenzen der freien Beweiswürdigung nicht überschritten hat (BSG, Urteil v. 31.5.1996, 2 RU 24/95; BSG, SozR 3-2200 § 539 Nr. 19 m. w. N.). Daher kann das Revisionsgericht bei geltend gemachten Verstößen gegen sie nur prüfen, ob das Tatsachengericht bei der Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat und ob es das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat (BSG, Urteil v. 6.4.1989, 2 RU 69/87; BSG, SozR 1500 § 164 Nr. 31; BSG, SozR 3-2200 § 539 Nr. 19; BSG, Urteil v. 29.6.2023, B 1 KR 12/22 R, Rz. 27). Eine formgerechte Verfahrensrüge einer Verletzung des Rechts der freien Beweiswürdigung liegt dagegen nicht vor, wenn die Revision lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des Gerichts setzt oder die eigene Würdigung der des Tatsachengerichts als überlegen bezeichnet (BSG, Urteil v. 7.4.1987, 11b RAr 56/86, Rz. 16; BSG, Urteil v. 24.1.2023, B 1 KR 7/22 R, Rz. 47).
Zur Bedeutung einer schlüssigen, insbesondere widerspruchsfreien Darstellung im Urteil des Tatsachengerichts für diese Überprüfung vgl. Rz. 26.
2.2.6.1 Verstoß gegen Denkgesetze
Rz. 12
Ein Gericht hat nicht schon dann gegen die Denkgesetze verstoßen, wenn es nach Meinung des Beteiligten unrichtige oder fernliegende Schlüsse gezogen hat; ebenso wenig genügen objektiv nicht überzeugende oder sogar unwahrscheinliche Schlussfolgerungen (vgl. BVerwG, Beschluss v. 10.12.2003, 8 B 154/03, NVwZ 2004, 627, 628). Von einem Verstoß gegen Denkgesetze kann nur bei einem aus Gründen der Logik schlechthin unmöglichen Schluss gesprochen werden bzw. dann, wenn aus den gesamten Gegebenheiten nur eine Folgerung gezogen werden kann, jede andere nicht "denkbar" ist und das Gericht die allein denkbare nicht gezogen hat (st. Rspr., vgl. u. a. BSG, SozR 3-2200 § 539 Nr. 19 m. w. N.; BSG, SGb 1999, 85; BSG, Urteil v. 29.6.2023, B 1 KR 12/22 R, Rz. 27; BVerwG, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 270; BVerwG, NJW 1997, 3328). Das Gericht verstößt deshalb nicht schon gegen § 128 Abs. 1 Satz 1, wenn es zu falschen Ergebnissen kommt, z. B. einem Zeugen zu Unrecht glaubt (BSG, Urteil v. 10.8.1999, B 2 U 30/98) oder nur eine von mehreren Möglichkeiten für denkbar gehalten hat. Ein Verstoß gegen die Denkgesetze ist aber z. B. gegeben, wenn das Gericht einem ärztlichen Zeugnis eine Erklärung entnimmt, die in ihm nicht enthalten ist (vgl. BSG, SozR SGG § 128 Nr. 12).
2.2.6.2 Verletzung allgemeiner Erfahrungssätze
Rz. 13
Ein allgemeiner Erfahrungssatz ist verletzt, wenn das Gericht einen bestehenden Erfahrungssatz nicht berücksichtigt (BSG, SozR 1500 § 128 Nr. 4; BSG, SozR 1500 § 103 Nr. 25) oder einen tatsächlich nicht existierenden Erfahrungssatz angewendet hat (vgl. BSGE 36, 35, 36; BSG, SozR Nr. 72 und 89 zu § 128 SGG; BSG, SozR 1500 § 103 Nr. 25; BSG, SozR 4-2500 § 87 Nr. 12: nicht zugleich ein Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht; vgl. aber BSG, Breithaupt 2001, 791, 783, wonach das Tatsachengericht gegen § 128 und § 103 verstößt, wenn es einen vermeintlichen allgemeinen Erfahrungssatz seiner Beweiswürdigung zugrunde legt).
Generell handelt es sich bei allgemeinen Erfahrungssätzen um Schlüsse, die man aufgrund von Erfahrung, darunter auch fachlicher Erfahrung, aus einer Reihe gleichartiger Tatsachen zieht und die daher entweder der allgemeinen Lebenserfahrung oder der besonderen Fachkunde angehören. Sie sind zwar im engeren Sinne keine Rechtssätze, weil ihnen die normative Verbindlichkeit fehlt und ihre Richtigkeit als Erfahrungssätze davon abhängt, dass weiterhin die entsprechenden Erfahrungen gemacht werden (BSG, Urteil v. 2.5.2001, 2 B 24/00 R; BSG, Breithaupt 2001, 783). Gleichwohl helfen sie wie Rechtssätze, die Gleichmäßigkeit und Kontinuität der Rechtsprechung zu sichern. Insbesondere ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass Gerichte im Beweisverfahren eine Einzelfallprüfung aufgrund der von ihnen angewendeten allgemeinen Erfahrungssätze für entbehrlich halten (BVerfG, NJW 1995, 125; BSG, Breithaupt 2001, 783). Ob im Einzelfall ein entsprechender allgemeiner Erfahrungssatz besteht, ist allerdings eine Rechtsfrage (Kopp/Schenke, VwGO, § 137 Rz. 19 m. w. N.), die im Revisionsverfahren nachprüfbar ist (vgl. BSGE 10, 46, 49; BSGE 18, 179, 180; BSGE 36, 35, 36; BSG, SozR 2200 § 581 Nr. 27; BSGE 82, 212, 216; BSG, Breithaupt 2001, 783). Den Inhalt medizinischer Erfahrungssätze hatte das BSG dagegen bislang im Unfallrecht als für das Revisionsgericht nicht überprüfbar angesehen (BSG, SozR 3-2200 § 539 Nr. 19 m. w. N.; BSG, Urteil v. 18.3.2003, B 2 U 13/02 R). Mit Urteil v. 27.6.2006 (B 2 U 5/05 R) ist es hiervon abgerückt. Bei der Ermittlung, was Stand der medizinischen Kenntnisse über Ursachen- und Wirkungszusammenhänge bei der Entstehung von Berufskrankheiten ist, gehe es zwar um Tatsachen, vorwiegend in Gestalt von medizinischen Erfahrungssätzen. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Möglichkeiten der Krankheitsverursachung durch schädig...