2.3.4.1 Besondere Bedeutung der mündlichen Verhandlung

 

Rz. 17

Besondere Bedeutung für die Gewährung des rechtlichen Gehörs nach §§ 128, 62 hat die mündliche Verhandlung. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in einer mündlichen Verhandlung darzulegen (BSG, Urteil v. 27.1.1993, 6 RKa 19/92; SozR 3-1500 § 160a Nr. 4). Dabei ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör i. d. R. dadurch genügt, dass das Gericht die mündliche Verhandlung anberaumt (§ 110 Abs. 1 Satz 1), der Beteiligte bzw. sein Prozessbevollmächtigter ordnungsgemäß geladen und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet wird. In besonderen Fällen kann nach der Rechtsprechung des BSG zur Gewährung rechtlichen Gehörs sogar die Anordnung des persönlichen Erscheinens geboten sein, um Gelegenheit zum mündlichen Vortrag zu geben (BSG, Urteil v. 15.7.1992, 9a RV 3/91 und vgl. Rn. 3 zu § 124). Das bloße Anwesenheitsinteresse eines anwaltlich vertretenen Beteiligten ist durch den Gehörsanspruch aber nicht geschützt (Schmidt, in: Eyermann, § 108 Rn. 16).

2.3.4.2 Entsprechende Anwendung des § 227 ZPO

 

Rz. 18

Nach dem gemäß § 202 auch im Verfahren der Sozialgerichte entsprechend anwendbaren § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO (vgl. z. B. BSG, Urteil v. 15.12.1995, 11 RAr 175/95; entsprechend für § 108 VwGO: BVerwG, NVwZ 1995 S. 373) "kann" ein Termin aus "erheblichen Gründen" aufgehoben oder verlegt oder eine Verhandlung vertagt werden. Aus dem "kann" in § 227 ZPO wird nach der Rechtsprechung ein "muss", wenn andernfalls die betroffene Partei in ihrem grundrechtlich geschützten Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG, verletzt würde (vgl. BVerfGE 25 S. 158, 166; BVerfGE 6 S. 315, 319; BSG, Urteil v. 30.10.2001, B 4 RA 49/01 R; SozR 3-1750 § 227 Nr. 1 m. w. N.; BVerwGE 81 S. 229; BVerwG, NVwZ 1995 S. 373). Deshalb eröffnet ein erheblicher Grund für die Terminsaufhebung nicht nur die Möglichkeit, sondern begründet sogar die Pflicht zur Terminsverlegung (BSG, Urteil v. 21.10.2001, B 4 RA 49/01 R m. w. N.). Eine Ablehnung einer beantragten Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung, die aus erheblichen Gründen geboten gewesen wäre, kann den Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs verletzen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs kann in der Revisionsinstanz allerdings nicht mehr mit Erfolg gerügt werden, wenn das Rügerecht durch schuldhaftes Unterlassen seiner Geltendmachung gemäß § 295 ZPO i. V. m. § 202 SGG in der Berufungsinstanz verloren gegangen ist (BSG, Urteil v. 20.3.1997, 2 BU 275/96). Verhandelt und entscheidet das Gericht zur Sache, obwohl der Kläger, dessen persönliches Erscheinen zur mündlichen Verhandlung angeordnet war, dem Gericht erhebliche Gründe für sein Ausbleiben mitgeteilt hat, dann soll nach LSG Rheinland-Pfalz (Breithaupt 1998 S. 98) ein Verfahrensmangel in der Form eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs nicht vorliegen, wenn der Kläger vorher auf die Möglichkeit der Verhandlung und Entscheidung im Falle seines Ausbleibens ausreichend hingewiesen worden ist.

 

Rz. 19

Die entsprechende Anwendung des § 227 Abs. 1 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren hat grundsätzlich zu bedenken, dass die Erscheinungen, die für beschleunigende Verfahrensregelungen im Zivilprozess Anlass gegeben haben, im sozialgerichtlichen Verfahren nicht in gleicher Weise und in gleichem Umfang bedeutsam sind. Da nicht in jedem sozialrechtlichen Verfahren ein dem Zivilprozess vergleichbares Beschleunigungsbedürfnis anzuerkennen sei, hält das BSG eine "funktionsdifferente Auslegung" (vgl. z. B. BSGE 73 S. 126, 128 m. w. N.) im sozialgerichtlichen Verfahren für geboten. Das rechtliche Gehör dürfe nicht durch eine "Überbeschleunigung" verletzt werden (vgl. BSG, SozR 3-1750 § 227 Nr. 1).

2.3.4.3 Anwaltswechsel

 

Rz. 19a

Der Grundsatz des rechtliches Gehörs ist auch berührt, wenn ein Prozessbevollmächtigter kurz vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung sein Mandat niederlegt und der Kläger aus besonderen Gründen nicht in der Lage ist, rechtzeitig einen neuen Bevollmächtigten zur Wahrnehmung seiner Rechte zu bestellen. Auch hieraus kann sich ein erheblicher Grund i. S. d. § 227 ZPO (i. V. m. § 202) für eine Vertagung oder Terminsverlegung ergeben (vgl. BSG, SozR 1500 § 62 Nr. 1; BSG, SozR 1750 § 227 Nr. 1; BVerwG, NJW 1993 S. 80). Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs aber selbst dann nicht anzunehmen, wenn der neue Bevollmächtigte sich angesichts der ihm für die Einarbeitung zur Verfügung stehenden Zeit mit dem Prozessstoff nicht mehr hinreichend vertraut machen konnte. Das ist der Fall, wenn dem Beteiligten die rechtzeitige Bestellung eines (neuen) Bevollmächtigten zugemutet werden konnte (vgl. BSGE 1 S. 280, 282 f.) bzw. wenn ihm ein Verschulden dabei anzulasten ist, dass dies nicht geschah oder wenn der Beteiligte kurzfristig einen Anwaltswechsel vorgenommen hat, obwohl ihm zuzumuten war, sich durch den von ihm bislang bestellten Bevol...

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