Rz. 3
Die materielle ("innere") Rechtskraft bedeutet, dass die Beteiligten und die Gerichte an den Urteilsspruch gebunden sind und jedenfalls eine abweichende Entscheidung über den Streitgegenstand ausgeschlossen ist. Sie sichert die Maßgeblichkeit und Rechtsbeständigkeit des Inhalts der gerichtlichen Entscheidung (vgl. auch Jüttner in: Fichte/Jüttner, SGG, § 141 Rz. 5). Funktion der Rechtskraft richterlicher Entscheidungen ist es, durch die Maßgeblichkeit und Rechtsbeständigkeit des Inhalts der Entscheidung über den Streitgegenstand für die Beteiligten und die Bindung der öffentlichen Gewalt an die Entscheidung die Rechtslage verbindlich zu klären und damit dem Rechtsfrieden zwischen den Beteiligten zu dienen, ihnen insbesondere zu ermöglichen, ihr Verhalten gemäß dieser Rechtslage einzurichten (BVerfG, Beschluss v. 31.1.1978, 2 BvL 8/77, Rz. 41). Die Rechtskraft ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, sie dient dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit (vgl. BVerfGE 2, 380; BVerwGE 14, 359). Neue Verfahren und widerstreitende Entscheidungen über dieselbe Streitsache sollen verhindert werden. Dabei wird die Möglichkeit, dass infolge der Rechtskraft eine unrichtige Entscheidung maßgeblich bleibt, grundsätzlich geringer veranschlagt als die Rechtsunsicherheit, die ohne die Rechtskraft bestehen würde (vgl. BVerwGE 14, 359, 363; BVerwG, NVwZ 1993, 672, 673). Die Rechtskraftwirkung, der prozessrechtlich der Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit eingeräumt ist (BVerwG, a. a. O. zu § 121 VwGO), tritt daher auch dann ein, wenn die Entscheidung sachlich unrichtig oder verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist (vgl. wegen Scheinurteilen auch unten Rn. 9 f.). Im sozialgerichtlichen Verfahren sind diese Grundsätze jedoch zu relativieren. Denn es geht nicht nur vielfach um Sachverhalte, die einem raschen Wechsel der Sach- und Rechtslage unterworfen sind, sodass die zeitliche Reichweite der Rechtskraft (siehe dazu Rz. 32) endet (z. B. kann der Kläger, dessen Rentenklage gerade rechtskräftig abgewiesen worden ist und inzwischen vermindert erwerbsfähig geworden ist, mit einem neuen Rentenantrag Erfolg haben). Vor allem ist eine Überprüfung bestandskräftiger und im Gerichtsverfahren bestätigter Verwaltungsakte nach § 44 SGB X möglich. Durch diese Regelung des materiellen Rechts hat der Gesetzgeber der materiellen Gerechtigkeit dort, wo es um Ansprüche des Bürgers geht, gegenüber der Rechtssicherheit eine größere Bedeutung beigemessen. Ziel des § 44 SGB X ist es nach der Rechtsprechung des BSG, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten Letzterer aufzulösen (vgl. BSG, Urteil v. 5.9.2006, B 2 U 24/05 R; BSG, SozR 3-1300 § 44 Nr. 24). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsakts unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (vgl. BSG, SozR 3900 § 40 Nr. 15; BSG, SozR 2200 § 1268 Nr. 29; BSG, Urteil v. 5.9.2006, B 2 U 24/05 R, Rz. 12; BSG, Beschluss v. 20.7.2011, B 13 R 97/11 B; Steinwedel, a. a. O., § 44 Rz. 5). Auch wenn der Versicherte schon wiederholt Überprüfungsanträge nach § 44 SGB X gestellt hat, darf die Verwaltung einen erneuten Antrag nicht ohne Rücksicht auf die wirkliche Sach- und Rechtslage zurückweisen (vgl. BSG, Urteil v. 5.9.2006, B 2 U 24/05R, Rz. 12). Zur mehrstufigen Prüfung in Anlehnung an ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich des Vorliegens eines unrichtigen Sachverhaltes nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X vgl. auch BSG, Urteil v. 3.2.1988, 9/9a RV 18/86,Rz. 16 ff.; BSG, Urteil v. 3.4.2001, B 4 RA 22/00 R, Rz. 28).
Entsprechend dem Umfang des Vorbringens des Versicherten muss sie in eine erneute Prüfung eintreten und den Antragsteller bescheiden (vgl. BSG, SozR 3900 § 40 Nr. 15; BSG, SozR 3-2600 § 243 Nr. 8, 27 f.; BSG, SozR 3-4100 § 119 Nr. 23, 119). Die Rechtskraft hat aus diesen Gründen im sozialgerichtlichen Verfahren nicht den Stellenwert, der ihr im zivilgerichtlichen Verfahren, aber auch nach der VwGO zukommt. Ein Antrag nach § 44 SGB X lässt aber, was gelegentlich verkannt wird, weder die formelle noch die materielle Rechtskraft entfallen, denn ein solcher Antrag ist die Geltendmachung eines behaupteten Anspruchs auf Zurücknahme eines Verwaltungsakts, aber schlechthin kein Rechtsbehelf (Abwehranspruch) i. S. d. § 77 (vgl. BSG, Urteil v. 10.4.2003, B 4 RA 56/02 R). Nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts gibt es keinen mit einem "Rechtsbehelf" durchsetzbaren Abwehranspruch mehr, weil grundsätzlich jeder "Rechtsbehelf" unzulässig ist (vgl. BSG, SozR 3-2600 § 93 Nr. 8). Ein materiell-rechtlich unter Umständen bestehender Rücknahmeanspruch nach § 44 SGB X kann dann selbständig mit Verpflichtungswiderpruch und entsprechender Klage mit dem Ziel verfolgt werden, dass die Behörde nach Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens verpflichtet wird, die frühere Regelung zurück...