1 Allgemeines
Rz. 1
In die zunächst unverändert gebliebene Norm ist durch das 6. SGGÄndG v. 17.8.2001 (BGBl. I S. 2144) mit Wirkung zum 2.1.2002 in Abs. 1 die Nr. 2 hinsichtlich Massenbeiladungen nach § 75a Abs. 2a eingefügt worden. Zum 1.7.2020 wurde durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze v. 12.6.2020 (BGBl. I S. 1248) Abs. 1 Nr. 2 dahingehend ergänzt, dass sich die Bindungswirkung des Urteils auch auf Versicherungsträger erstreckt, die einen Antrag auf Beiladung nach § 75 Abs. 2b nicht fristgemäß gestellt haben.
Rz. 1a
Parallelvorschriften sind (mit Abweichungen) § 121 VwGO, § 110 FGO und § 322 ZPO. Der Begriff Rechtskraft bezeichnet in den Verfahrensordnungen sowohl die Unanfechtbarkeit (formelle Rechtskraft) als auch inhaltliche Maßgeblichkeit (materielle oder innere Rechtskraft) einer Entscheidung (vgl. ausführlich dazu Stein/Jonas, § 322 Rn. 1 ff.). § 141 hat die materielle Rechtskraft zum Gegenstand, also die Frage der Bindung an das Urteil. Die von § 141 vorausgesetzte formelle Rechtskraft der Entscheidung, ihre verfahrensrechtliche Unangreifbarkeit, bestimmt sich nach § 202 SGG i. V. m. § 705 ZPO (vgl. dazu unten Rz. 5 ff.).
Rz. 2
Die Neuregelungen zum 2.1.2002 und 1.7.2020 in Abs. 1 Nr. 2 erstreckt die Bindungswirkung rechtskräftiger Urteile, um die Einheitlichkeit der Entscheidung zu wahren, auf Personen, die im Falle des § 75 Abs. 2a einen Antrag auf Beiladung nicht oder nicht fristgerecht gestellt haben bzw. auf Versicherungsträger nach den in § 75 Abs. 2b genannten Voraussetzungen. Diese Erweiterung der subjektiven Rechtskraft lehnt sich an § 121 Nr. 2 VwGO an, der eine entsprechende Bestimmung für die in der VwGO bereits durch das 4. VwGOÄndG (neu) geregelte "Massenbeiladung" (§ 65 Abs. 3 VwGO mit teilweise anderen Voraussetzungen als § 75) trifft.
2 Rechtspraxis
2.1 Materielle Rechtskraft
2.1.1 Begriff
Rz. 3
Die materielle ("innere") Rechtskraft bedeutet, dass die Beteiligten und die Gerichte an den Urteilsspruch gebunden sind und jedenfalls eine abweichende Entscheidung über den Streitgegenstand ausgeschlossen ist. Sie sichert die Maßgeblichkeit und Rechtsbeständigkeit des Inhalts der gerichtlichen Entscheidung (vgl. auch Jüttner in: Fichte/Jüttner, SGG, § 141 Rz. 5). Funktion der Rechtskraft richterlicher Entscheidungen ist es, durch die Maßgeblichkeit und Rechtsbeständigkeit des Inhalts der Entscheidung über den Streitgegenstand für die Beteiligten und die Bindung der öffentlichen Gewalt an die Entscheidung die Rechtslage verbindlich zu klären und damit dem Rechtsfrieden zwischen den Beteiligten zu dienen, ihnen insbesondere zu ermöglichen, ihr Verhalten gemäß dieser Rechtslage einzurichten (BVerfG, Beschluss v. 31.1.1978, 2 BvL 8/77, Rz. 41). Die Rechtskraft ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, sie dient dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit (vgl. BVerfGE 2, 380; BVerwGE 14, 359). Neue Verfahren und widerstreitende Entscheidungen über dieselbe Streitsache sollen verhindert werden. Dabei wird die Möglichkeit, dass infolge der Rechtskraft eine unrichtige Entscheidung maßgeblich bleibt, grundsätzlich geringer veranschlagt als die Rechtsunsicherheit, die ohne die Rechtskraft bestehen würde (vgl. BVerwGE 14, 359, 363; BVerwG, NVwZ 1993, 672, 673). Die Rechtskraftwirkung, der prozessrechtlich der Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit eingeräumt ist (BVerwG, a. a. O. zu § 121 VwGO), tritt daher auch dann ein, wenn die Entscheidung sachlich unrichtig oder verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist (vgl. wegen Scheinurteilen auch unten Rn. 9 f.). Im sozialgerichtlichen Verfahren sind diese Grundsätze jedoch zu relativieren. Denn es geht nicht nur vielfach um Sachverhalte, die einem raschen Wechsel der Sach- und Rechtslage unterworfen sind, sodass die zeitliche Reichweite der Rechtskraft (siehe dazu Rz. 32) endet (z. B. kann der Kläger, dessen Rentenklage gerade rechtskräftig abgewiesen worden ist und inzwischen vermindert erwerbsfähig geworden ist, mit einem neuen Rentenantrag Erfolg haben). Vor allem ist eine Überprüfung bestandskräftiger und im Gerichtsverfahren bestätigter Verwaltungsakte nach § 44 SGB X möglich. Durch diese Regelung des materiellen Rechts hat der Gesetzgeber der materiellen Gerechtigkeit dort, wo es um Ansprüche des Bürgers geht, gegenüber der Rechtssicherheit eine größere Bedeutung beigemessen. Ziel des § 44 SGB X ist es nach der Rechtsprechung des BSG, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten Letzterer aufzulösen (vgl. BSG, Urteil v. 5.9.2006, B 2 U 24/05 R; BSG, SozR 3-1300 § 44 Nr. 24). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsakts unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (vgl. BSG, SozR 3900 § 40 Nr. 15; BSG, SozR 2200 § 1268 Nr. 29; BSG, Urteil v. 5.9.2006, B 2 U 24/05 R, Rz. 12; BSG, Beschluss v. 20.7.2011, B 13 R 97/11 B; Steinwedel, a. a. O., § 44 Rz. 5). Auch w...