1 Allgemeines

 

Rz. 1

Der Begriff Rechtskraft bezeichnet in den Verfahrensordnungen sowohl die Unanfechtbarkeit (formelle Rechtskraft) als auch inhaltliche Maßgeblichkeit (materielle oder innere Rechtskraft) einer Entscheidung (vgl. ausführlich dazu Stein/Jonas, § 322 Rn. 1 ff.). § 141, der im Wesentlichen § 121 VwGO und § 322 ZPO entspricht, hat die materielle Rechtskraft zum Gegenstand, also die Frage der Bindung an das Urteil. Die von § 141 vorausgesetzte formelle Rechtskraft der Entscheidung, ihre verfahrensrechtliche Unangreifbarkeit, bestimmt sich nach § 202 SGG i. V. m. § 705 ZPO (siehe dazu unten Rz. 5 ff.).

 

Rz. 2

Absatz 1 ist durch Art. 1 Nr. 47 6. SGGÄndG v. 17.8.2001 (BGBl. I S. 2144) mit Wirkung zum 2.1.2002 neu gefasst worden. Die neue Nr. 2 erstreckt, um die Einheitlichkeit der Entscheidung zu wahren, die Bindungswirkung rechtskräftiger Urteile auf Personen, die im Falle des – ebenfalls neuen – § 75 Abs. 2a einen Antrag auf Beiladung nicht oder nicht fristgerecht gestellt haben. Diese Erweiterung der subjektiven Rechtskraft lehnt sich an § 121 Nr. 2 VwGO an, der eine entsprechende Bestimmung für die in der VwGO bereits durch das 4. VwGOÄndG (neu) geregelte "Massenbeiladung" (§ 65 Abs. 3 VwGO mit teilweise anderen Voraussetzungen als § 75) trifft. Im Übrigen entspricht die Vorschrift dem bisher geltenden Recht.

2 Rechtspraxis

2.1 Materielle Rechtskraft

2.1.1 Begriff

 

Rz. 3

Die materielle ("innere") Rechtskraft bedeutet, dass die Beteiligten und die Gerichte an den Urteilspruch gebunden sind und jedenfalls eine abweichende Entscheidung über den Streitgegenstand ausgeschlossen ist. Sie sichert die Maßgeblichkeit und Rechtsbeständigkeit des Inhalts der gerichtlichen Entscheidung (BVerfGE 47 S. 146, 161). Die Rechtskraft ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, sie dient dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit (vgl. BVerfGE 2 S. 380; BVerwGE 14 S. 359). Neue Verfahren und widerstreitende Entscheidungen über dieselbe Streitsache sollen verhindert werden. Dabei wird die Möglichkeit, dass infolge der Rechtskraft eine unrichtige Entscheidung maßgeblich bleibt, grundsätzlich geringer veranschlagt als die Rechtsunsicherheit, die ohne die Rechtskraft bestehen würde (vgl. BVerwGE 14 S. 359, 363; BVerwG, NVwZ 1993 S. 672, 673). Die Rechtskraftwirkung, der prozessrechtlich der Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit eingeräumt ist (BVerwG, a. a. O. zu § 121 VwGO), tritt daher auch dann ein, wenn die Entscheidung sachlich unrichtig oder verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist (vgl. wegen Scheinurteilen auch unten Rn. 9 f.). Im sozialgerichtlichen Verfahren sind diese Grundsätze jedoch zu relativieren. Denn es geht nicht nur vielfach um Sachverhalte, die einem raschen Wechsel der Sach- und Rechtslage unterworfen sind, so dass die zeitliche Reichweite der Rechtskraft (siehe dazu Rz. 32) endet (z. B. kann der Kläger, dessen Rentenklage gerade rechtskräftig abgewiesen worden ist und inzwischen vermindert erwerbsfähig geworden ist, mit einem neuen Rentenantrag Erfolg haben). Vor allem ist eine Überprüfung bestandskräftiger und im Gerichtsverfahren bestätigter Verwaltungsakte nach § 44 SGB X möglich. Durch diese Regelung des materiellen Rechts hat der Gesetzgeber der materiellen Gerechtigkeit dort, wo es um Ansprüche des Bürgers geht, gegenüber der Rechtssicherheit eine größere Bedeutung beigemessen. Ziel des § 44 SGB X ist es nach der Rechtsprechung des BSG, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten Letzterer aufzulösen (vgl. BSG, Urteil v. 5.9.2006, B 2 U 24/05 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 18; BSG, SozR 3-1300 § 44 Nr. 24). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsakts unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (vgl. BSG, SozR 3900 § 40 Nr. 15; BSG, SozR 2200 § 1268 Nr. 29, BSG, Beschluss v. 20.7.2011, B 13 R 97/11 B; Steinwedel, a. a. O., § 44 Rn. 5). Auch wenn der Versicherte schon wiederholt Überprüfungsanträge nach § 44 SGB X gestellt hat, darf die Verwaltung einen erneuten Antrag nicht ohne Rücksicht auf die wirkliche Sach- und Rechtslage zurückweisen. Entsprechend dem Umfang des Vorbringens des Versicherten muss sie in eine erneute Prüfung eintreten und den Antragsteller bescheiden (vgl. BSG, SozR 3900 § 40 Nr. 15; BSG, SozR 3-2600 § 243 Nr. 8 S. 27 f.; BSG, SozR 3-4100 § 119 Nr. 23 S. 119). Die Rechtskraft hat aus diesen Gründen im sozialgerichtlichen Verfahren nicht den Stellenwert, der ihr im zivilgerichtlichen Verfahren, aber auch nach der VwGO zukommt. Ein Antrag nach § 44 SGB X lässt aber, was gelegentlich verkannt wird, weder die formelle noch die materielle Bestandskraft/Bindungswirkung entfallen, denn ein solcher Antrag ist die Geltendmachung eines behaupteten Anspruchs auf Zurücknahme eines Verwaltungsakts, aber schlechthin kein Rechtsbehelf (Abwehranspruch) i. S. d. § 77 (vgl. BSG, Urteil v. 10.4.2003, B 4 RA 56/02 R, ZfS 2004 S. 36). Nach Eintritt der Unanfech...

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