Rz. 9
Der formellen Rechtskraft fähig sind nach allg. Meinung alle Entscheidungen, die selbständig anfechtbar sind oder deren an sich gegebene Anfechtung durch Gesetz ausgeschlossen ist (vgl. z. B. Redeker/von Oertzen, VwGO, § 121 Rz. 1; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 141 Rz. 2; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 705 Rn. 3; Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 121 Rz. 13), also Urteile, aber auch Gerichtsbescheide und Beschlüsse, soweit sie selbständig anfechtbar oder unanfechtbar sind. Grundurteile nach § 130 Abs. 1, die im Falle der reinen Leistungsklage (§ 130 Abs. 1 i. V. m. § 54 Abs. 5) ebenfalls Zwischenurteile darstellen, sind rechtskraftfähig. Nach BSG (Beschluss v. 19.9.2007, B 9/9a SB 49/06) mit zustimmender Anm. Keller, JurisPR-SozR 4/2008 ist das Zwischenurteil nicht rechtskraftfähig (str., vgl. Komm. in Rz. 14 ff. zu § 130). Scheinurteile (Nichturteile) können nicht rechtskräftig werden (vgl. Zeihe, SGG, vor § 141 Anm. 1 B I; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 141 Rz. 2), nichtige Urteile, d. h. solche, die an besonders schweren Verfahrensfehlern leiden, sind der formellen (nicht jedoch der materiellen) Rechtskraft fähig.
Rz. 10
Materieller Rechtskraft fähig sind alle Urteile und Beschlüsse, die eine endgültige Entscheidung über den Streitgegenstand betreffen (vgl. Schütz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 141 Rz. 19), ebenso Gerichtsbescheide. Hierzu zählen Endurteile (vgl. bei § 125), auch Grundurteile nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 i. V. m. § 54 Abs. 4 über die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (vgl. Komm. in Rz. 2 zu § 130), nicht jedoch das Grundurteil, das auf die reine Leistungsklage ergeht (§ 130 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 i. V. m. § 54 Abs. 5), denn dieses ist ein Zwischenurteil i. S. d. § 304 ZPO, der Rechtsstreit bleibt anhängig (zur Rechtskraft von Grundurteilen vgl. unten Rn. 13 und vgl. Behn, SGb 1983, 424). Vorbehaltsurteile (vgl. bei § 125) sind nicht materiell rechtskraftfähig (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 141 Rz. 5). Gerichtsbescheide stehen, wenn sie formell rechtskräftig geworden sind, d. h. nicht rechtzeitig mit Rechtsmittel oder Antrag auf mündliche Verhandlung angegriffen worden sind, Urteilen gleich (§ 105). Gleiches gilt für urteilsvertretende Beschlüsse (§§ 153 Abs. 4, 158). Beschlüsse sind der materiellen Rechtskraft dann fähig, wenn sie in formeller Rechtskraft erwachsen und inhaltlich eine der Rechtskraft fähige Entscheidung enthalten (vgl. BGH, NJW 1985, 1335; BGH, NJW 2004, 1805). Beschlüsse über die Nichtzulassung der Berufung bzw. der Revision können zwar unanfechtbar werden, aber nicht materielle Rechtskraft erlangen, weil sie keine Entscheidung über den Streitgegenstand beinhalten. Sie bewirken aber die Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung. Beschlüsse über Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz (§§ 86a f.) entscheiden, auch wenn sie ablehnend sind, bindend und sind der materiellen Rechtskraft fähig (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 141 Rz. 5; Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 121 Rz. 16; Rennert, in: Eyermann, VwGO, § 121 Rz. 6; Thüringer LSG, Urteil v. 30.1.2004, L 6 RJ 914/03 R). PKH-Beschlüsse können auch nach der Neufassung des § 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht in materieller Rechtskraft erwachsen, weil sie zwar unanfechtbar werden können, es aber weiterhin an einer der materiellen Rechtskraft fähigen Entscheidung fehlt (vgl. BGH, NJW 2004, 1805; OVG Münster, DVBl 1983, 952; VGH Hessen, AnwBl 1993, 45; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 73a Rz. 13g; Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 121 Rz. 17; Rennert, in: Eyermann, VwGO, § 121 Rz. 6; a. A. Kopp/Schenke, VwGO, § 121 Rz. 4; a. A. auch Kilian, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 121 Rz. 37 ff. "wenigstens der materiellen Rechtskraft ähnliche Wirkung"). Gerichtliche Vergleiche haben keine der Rechtskraft ähnliche Wirkung (vgl. BSG, SozR 3-1500 § 153 Nr. 8; BGHZ 28, 171, 175; BGHZ 86, 184 ff.; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 141 Rz. 5; Vollkommer, in: Zöller, ZPO, vor § 322 Rz. 9a). Ein solcher Vergleich hat für künftige Prozesse lediglich zur Folge, dass eine neue Klage gegen die damals angefochtenen Bescheide unzulässig und gegen den Ausführungsbescheid nur mit der Begründung zulässig ist, der Prozessvergleich sei nicht ordnungsgemäß ausgeführt worden. Neue Leistungsanträge blieben insbesondere uneingeschränkt zulässig (BSG, SozR 3-1500 § 153 Nr. 8). Soweit der Prozessvergleich die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten bindend gestaltet, kommt ihm die Wirkung eines öffentlich-rechtlichen Vertrages zu (Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 121 Rz. 18).