2.1.3.1 Rechtskrafttheorien
Rz. 11
Über Wesen und Wirkungsweisen der materiellen Rechtskraft existieren mehrere Theorien (ausführlich dazu Zeihe, vor § 141 Anm. 1 B II; Vollkommer, in: Zöller, ZPO, vor § 322 Rz. 16; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, Einführung zu §§ 322 bis 327 Rz. 4 ff.; Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 121 Rz. 19 f.). Nach der heute ganz herrschenden prozessrechtlichen Theorie (vgl. etwa Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 141 Rz. 3a; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, Einführung zu §§ 322 bis 327 Rz. 9; Rennert, in: Eyermann, VwGO, § 121 Rz. 7; Kopp/Schenke, VwGO, § 121 Rz. 2; vgl. auch oben Rn. 3) bewirkt die Rechtskraft, dass die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger an eine formell rechtskräftige Entscheidung gebunden sind und die Gerichte in einem späteren Prozess der Beteiligten hinsichtlich desselben Streitgegenstands nicht mehr, jedenfalls nicht mehr abweichend entscheiden können (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 121 Rz. 2). Die (ältere) materielle Rechtskrafttheorie nimmt dagegen an, dass das Urteil auch die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten gestaltet.
2.1.3.2 Unzulässigkeit neuer Klage
Rz. 12
Unterschiedlich wird auch vom Standpunkt der prozessrechtlichen Rechtskrafttheorie die Frage beantwortet, ob lediglich eine spätere abweichende Entscheidung ausgeschlossen ist (so z. B. Redeker/von Oertzen, VwGO, § 121 Rz. 5; BVerwGE 35, 339; BSGE 13, 188; wohl auch BSG, SozR 3-1500 § 141 Nr. 6) oder ob jede neue Verhandlung und Entscheidung über den rechtskräftig entschiedenen Streitgegenstand als unzulässig anzusehen ist (so zutreffend die "ne bis in idem"-Lehre der h. M., vgl. z. B. Zeihe, SGG, vor § 141 Anm. 1 C III; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, § 141 Rz. 6; Vollkommer, in: Zöller, ZPO, vor § 322 Rz. 19; Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 121 Rz. 19 f.; mit ausführlicher Darstellung auch zu den Ausnahmen: BGHZ 93, 287; vgl. auch BVerwGE 79, 33). Wird die Klage durch Prozessurteil als unzulässig abgewiesen, erwächst nur die Entscheidung, dass die in den Urteilsgründen aufgeführte Sachurteilsvoraussetzung fehlt, in Rechtskraft (vgl. BVerwG, 11.11.1988, 8 B 218/98; BSG, Beschluss v. 29.3.2007, B 9a V 7/06 B, Rz. 13; BSG, Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 164; Kilian, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 121 Rz. 69; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 121 Rz. 52). Wegen der Verschiedenheit der Rechtskraftwirkung einer Prozess- und einer Sachabweisung sind die Gerichte nicht berechtigt, eine Klage zugleich aus prozessrechtlichen und sachlich-rechtlichen Gründen abzuweisen. Aus diesem Grunde muss eine von der Vorinstanz der Prozessabweisung beigefügte Sachbeurteilung bei der Bestimmung des maßgeblichen Urteilsinhalts als nicht geschrieben behandelt werden (vgl. BVerwG, Beschluss v. 3.11.2000, 6 B 2.00; BVerwG, Urteil v. 12.7.2000, 7 C 3.00; BVerwG, Beschluss v. 24.10.2006, 6 B 47/06; zur NZB bei Abweisung der Klage als unzulässig und unbegründet vgl. BayVGH, Beschluss v. 9.6.2011, 14 ZB 10.2645 u. a.; nach Thüringer OVG, Beschluss v. 25.7.2023, 4 ZKO 362/22, Rz. 9 handelt es sich bei Abweisung einer Klage als unzulässig und unbegründet um ein Prozessurteil). Auch ein die Klage abweisendes Urteil, das die Zulässigkeit der Klage verfahrensfehlerhaft dahinstehen lässt, ist der uneingeschränkten materiellen Rechtskraft fähig, wenn aus dessen Tenor und Entscheidungsgründen ersichtlich ist, dass das Gericht ungeachtet seiner Zweifel an der Zulässigkeit der Klage kein Prozessurteil erlassen, sondern eine Sachentscheidung getroffen hat (vgl. BGH, Urteil v. 16.1.2008, XII ZR 216/05).
2.1.3.3 Präklusion
Rz. 13
Auch wenn die tatsächlichen Feststellungen des Urteils nicht selbständig rechtskräftig werden können (vgl. unten Rz. 18), hat die Rechtskraft des Urteils auch zur Folge, dass die im Vorprozess unterlegene Partei sich im neuen Rechtsstreit nicht mehr auf solche Tatsachen berufen kann, die – in den Grenzen des Streitgegenstands (näher dazu unten Rn. 21) – zu dem "abgeurteilten Lebensvorgang" gehören und im maßgeblichen Zeitpunkt bereits vorgelegen haben (vgl. Vollkommer, in: Zöller, ZPO, vor § 322 Rz. 70; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, SGb 1974, 117). Diese Präklusion als Folge der Rechtskraft tritt unabhängig davon ein, ob der Betroffene Kenntnis von der präkludierten Tatsache hatte; sie ist auch von einem Verschulden der Partei und einer Erkennbarkeit der Tatsache unabhängig (Vollkommer, a. a. O.; Zeihe, SGG, vor § 141 Anm. 1 C.III). Die Rechtskraft schließt, wie sich aus ihrem Sinn (Schaffung von Rechtsfrieden) und einem Rückschluss aus § 767 Abs. 2 ZPO (i. V. m. §§ 198, 202 SGG) ergibt, die Geltendmachung von "Einwendungen" aus, die den festgestellten Leistungsanspruch vernichten oder hemmen (also auch von Einreden), wenn sie sich auf Gründe stützen, die schon bei Schluss der letzten mündlichen Verhandlung des früheren Verfahrens gegeben waren. Hierzu gehört die Verjährungseinrede (vgl. BSGE 53, 253; vgl. auch BSG, Urteil v. 20.4.1999, B 1 KR 15/98 R, Rz. 18).
Rz. 14
Ein rechtskräftiges G...