Rz. 37a

Die materielle Rechtskraft eines Urteils wirkt zwar grundsätzlich zeitlich unbegrenzt (vgl. BVerwGE 91 S. 256, 259). Verbunden mit der Begrenzung der materiellen Rechtskraft auf den entschiedenen Streitgegenstand ist aber auch eine zeitliche Dimension der materiellen Rechtskraft eines Urteils (zum zivilgerichtlichen Verfahren ausführlich Vollkommer, in: Zöller, vor § 322 Rn. 53 ff.) gegeben. So, wie das zivilgerichtliche Urteil grundsätzlich nur die Tatsachen berücksichtigt, die vor der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung eingetreten sind (Vollkommer, in: Zöller, a. a. O.), schreibt das sozialgerichtliche Urteil die Rechtsbeziehung zwischen den Beteiligten lediglich auf den für die jeweilige Klage maßgeblichen Zeitpunkt fest (welcher dies bei den einzelnen Klagearten ist, ist umstritten; vgl. etwa bei Zeihe, vor § 141 Anm. C.IV.1.d.) Die Rechtskraftwirkung eines Urteils endet deshalb, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- und Rechtslage nachträglich verändert (st. Rspr. vgl. BVerwG, Beschluss v. 1.6.2007, 4 B 13/07, zum Bescheidungsurteil; BVerwG, DVBl 2002 S. 343; BVerwGE 110 S. 111; BVerwGE 108 S. 30; BSG, SozR 4100 § 151 Nr. 10; BSGE 8 S. 284). Auf der Hand liegt, dass nicht jede nachträgliche Änderung der Verhältnisse die Rechtskraftwirkung entfallen lässt. Insbesondere der Zeitablauf allein stellt keine erhebliche Änderung der Sachlage dar (BVerwG, DVBl 2002 S. 343). Eine Befreiung von der Rechtskraftwirkung tritt nicht allein deshalb ein, weil sich nachträglich neue Erkenntnisse über zum maßgeblichen Zeitpunkt bereits vorhandene Tatsachen ergeben, das Gericht nunmehr eine andere Würdigung des alten Sachverhalts vornimmt oder mittlerweile eine neue oder geänderte oder höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt. Eine Lösung der Bindung an das rechtskräftige Urteil kann nur eintreten, wenn die nachträgliche Änderung der Sachlage entscheidungserheblich ist. Das ist in den Verfahren vor den Gerichten der Allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit der Fall, wenn es für die geltend gemachte Rechtsfolge um die rechtliche Bewertung eines jedenfalls in wesentlichen Punkten neuen Sachverhalts geht, zu dem das rechtskräftige Urteil – auch unter Berücksichtigung seiner Rechtsfrieden und Rechtssicherheit stiftenden Funktion – keine verbindlichen Aussagen mehr enthält (BVerwG, DVBl 2002 S. 343). Für das Sozialrecht bestimmt sich in erster Linie nach § 48 SGB X, welche Änderungen eine neue Entscheidung ermöglichen. Entfällt z. B. infolge einer Rechtsänderung die Verschreibungsfähigkeit eines Medikaments, kann der Kläger sich nicht auf die Rechtskraft eines früheren Urteils berufen, mit dem die Krankenkasse verurteilt worden war, auf entsprechende Verordnung dieses Arzneimittels als Sachleistung zu gewähren (vgl. LSG NRW, Urteil v. 14.2.2007, L 11 KR 21/06). Keine Änderung der Rechtslage ist der Wandel der Rechtsprechung bei unveränderter Gesetzeslage (vgl. GK-Bley, § 141 Anm. 7b; Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, § 121 Rn. 74). Die Rechtskraft bleibt daher von einer Änderung der Rechtsprechung unberührt (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 141 Rn. 8c). Im Sozialrecht kann sich für den im vorangegangenen Klageverfahren unterlegenen Kläger aus § 48 Abs. 2 SGB X ein Anspruch auf erneute Prüfung ergeben. Der dazu ergehende Verwaltungsakt bildet einen neuen Streitgegenstand und eröffnet wieder den Rechtsweg. Die Rechtskraft der vorangegangenen Entscheidung steht nach der Rechtsprechung des BSG nicht entgegen (vgl. BSGE 13 S. 181, 186; BSGE 15 S. 17, 20; BSGE 19 S. 164, 167; BSGE 26 S. 89, 92; BSGE 36 S. 120, 123).

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