Rz. 15

Besondere Probleme wirft es auf, wenn das SG die Zulassung nicht geprüft und hierüber nicht entschieden hat, weil es irrig davon ausgegangen ist, die Berufung sei mangels Ausschließungsgründen statthaft. Eine Auslegung der Entscheidung dahin, dass die Berufung entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung vom SG zugelassen werden sollte, scheitert schon daran, dass dann wiederum die Grenzen der zulässigen Auslegung überschritten werden. Denn diese Entscheidung hat das SG – irrtümlich – gerade nicht getroffen (vgl. LSG NRW, Beschluss v. 17.10.2006, L 11 [8] R 57/06). Vielmehr ist die Rechtsmittelbelehrung falsch. Es läuft die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 Satz 1 (BSG, Urteil v.14.12.2006, B 4 R 19/06 R, SozR 4-3250 § 14 Nr. 3; BSG, NZS 1997 S. 388; BSG, Urteil v. 19.11.1996, 1 RK 18/95, NZS 1997 S. 391; LSG NRW, Urteil v. 14.2.2007, L 12 SO 10/06; Leitherer, SGG, § 144 Rn. 45, str.).

 

Rz. 15a

Auch eine Umdeutung der auf die falsche Rechtsmittelbelehrung eingelegten Berufung in eine Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht möglich, weil der beschwerte Beteiligte tatsächlich Berufung einlegen wollte (zutreffend BSG, Urteil v. 20.5.2003, B 1 KR 25/01 R, SozR 4-1500 § 158 Nr. 1; BSG, Urteil v. 19.11.1996, 1 RK 18/95, SozR 3-1500 § 158 Nr. 1; LSG Saarland, Urteil v. 24.1.2006, L 6 AL 22/04; LSG NRW, Beschluss v. 26.3.2008, L 10 (6) P 46/07; LSG NRW, Beschluss v. 4.4.2008, L 10 (6) P 64/07; Leitherer, SGG, § 144 Rn. 45 m. w. N.; Krasney/Udsching, VIII 44; vgl. aber LSG NRW, Urteil v. 14.12.2005, L 8 R 121/05; Peters/Sautter/Wolff, SGG, § 145 Rn. 19). Eine Umdeutung scheidet ohnehin dann aus, wenn der Berufungsführer sachkundig vertreten oder eine Behörde ist. Das LSG darf in solchen Fällen nicht über die Berufung entscheiden, da diese nicht statthaft ist (BSG, Urteil v. 19.11.1996, 1 RK 18/95, NZS 1997 S. 388, 391; BSG, Urteil v. 17.10.2007, B 11a AL 51/06 R, SozR 4-4300 § 144 Nr. 17; Krasney/Udsching, VIII Rn. 43; vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 4.4.1984, 1 BvR 276/83, BVerfGE 66 S. 336; Greger, NJW 2002 S. 3049, 3053). Dem LSG ist es auch verwehrt, die Berufung zuzulassen, denn eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ihm nicht angefallen. Soweit hierzu die Auffassung vertreten wird, das LSG könne auf die Berufung die Zulassung prüfen und in der Sache entscheiden, wenn Zulassungsgründe vorliegen (OVG Niedersachsen, Beschluss v. 8.12.1995, 7 L 5519/94, NVwZ-RR 1997 S. 78), löst sich diese Konstruktion von gesetzlichen Vorgaben. Zutreffend ist sicher der verfassungsrechtliche Ansatz (Art. 19 Abs. 4 GG), dass die Rechtsschutzmöglichkeiten nicht an Fehlern des Gerichts scheitern dürfen (vgl. BVerfG, Beschluss v. 4.4.1984, 1 BvR 276/83, BVerfGE 66 S. 331, 336).

 

Rz. 15b

Für diese Fallgestaltung gibt es indessen eine Lösungsmöglichkeit: Die nicht statthafte Berufung kann der Beteiligte dadurch korrigieren, dass er – binnen Jahresfrist – Nichtzulassungsbeschwerde einlegt. Nötigenfalls muss das LSG hierauf angesichts der ihm auferlegten prozessualen Fürsorgepflicht hinweisen (Rechtsgedanke des § 106 Abs. 1 SGG). Hat er sich entsprechend der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung bereits für die Berufung entschieden, darf das LSG die Berufung nicht als unzulässig verwerfen. Das LSG muss das Verfahren entsprechend § 114 SGG aussetzen, um den Beteiligten die Möglichkeit einzuräumen, das Zulassungsverfahren nachzuholen (VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 19.9.1995, 10 S 2646/94, DVBl. 1996 S. 109; OVG Bremen, Beschluss v. 6.10.1989, 2 BA 25/89, NVwZ-RR 1990 S. 387). Dieses Verfahren mag zwar zeitraubend und umständlich sein; dies ändert aber nichts daran, dass der Fehler des SG in einem nunmehr formell richtigen Verfahren beseitigt werden muss. Verfahrensökonomische Gesichtspunkte können – entgegen verbreiteter Handhabung – immer erst dann zum Zuge kommen, wenn das Gesetz mehrere – alternative – Lösungen anbietet. Nicht überzeugend ist der Hinweis darauf, dass eine Aussetzung entsprechend § 114 SGG daran scheitert, dass die eingelegte Berufung unzulässig ist und damit verworfen werden müsste (so Leitherer, SGG, § 144 Rn. 45a). Dabei bleibt unberücksichtigt, dass das BSG eine Aussetzung des Verfahrens entsprechend § 114 SGG auch dann verlangt, wenn der Kläger gegen den Bescheid sogleich Klage erhoben hat und das Widerspruchsverfahren nicht durchgeführt worden ist; geschieht dies nicht, soll ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliegen (BSG, Urteil v. 2.8.1977, 9 RV 102/76, SozR 1500 § 78 Nr. 8). Wird diese Auffassung akzeptiert (z. B. Leitherer, SGG, § 78 Rn. 3a), kann in dem Fall, dass das Gericht irrtümlich angenommen hat, die Berufung sei zulässig, schon deswegen nichts anderes gelten, weil hier das Gericht und nicht der Beteiligte den Fehler gesetzt hat.

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