Rz. 19
Die Berufung wegen eines Verfahrensmangels (§ 144 Abs. 2 Nr. 3) setzt voraus, dass eine Verfahrensrüge schlüssig vorgetragen wird und der Verfahrensmangel tatsächlich vorliegt (Krasney/Udsching, VIII Rn. 29; Knittel, in: Hennig, SGG, § 144 Rn. 56). Ob ein Verfahrensmangel i. S. v. § 144 Abs. 2 Nr. 3 vorliegt, richtet sich allein danach, ob das Gericht auf dem Weg zu seiner Entscheidung prozessual ordnungsgemäß vorgegangen ist (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v .6.7.2006, L 9 B 1104/05 KR NZB). Die Beschwerde ist nicht schlüssig begründet, wenn sich hieraus nicht ergibt, welche Mängel gerügt werden und welche Verfahrensvorschriften verletzt sein sollen. Die den Verfahrensmangel begründenden Tatsachen sind genau anzugeben. Ein heilbarer Mangel (hierzu § 202 SGG i. V. m. § 295 ZPO; vgl. BSG, Urteil v. 28.3.2000, B 8 KN 7/99 R, Breithaupt 2000 S. 894) darf nicht geheilt sein (vgl. hierzu die Kommentierung zu § 160). Unverzichtbare Vorschriften sind nicht heilbar. Nach BSG (a. a. O.) kann ein Verfahrensfehler nicht mehr mit Erfolg gerügt werden, wenn der betreffende Beteiligte ihn nicht spätestens in der nächsten mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat.
Rz. 19a
Verfahrensmangel ist dabei der Verstoß gegen eine das sozialgerichtliche Verfahren regelnde Vorschrift (Knittel, in: Hennig, § 144 Rn. 57). Immer geht es nur um das prozessuale Vorgehen des Gerichts auf dem Weg zur Entscheidung oder die Zulässigkeit der Entscheidung, niemals hingegen um die sachliche Richtigkeit der Entscheidung. Das Gericht ist grundsätzlich nur befugt, die Entscheidung auf vom Kläger geltend gemachte Verfahrensfehler hin zu überprüfen. Eine darüber hinausgehende Prüfung von Amts wegen ist ihm verwehrt. Greift der Beschwerdeführer das Urteil nur in der Sache an, rechtfertigt selbst ein offenkundiger Verfahrensfehler nicht die Zulassung der Berufung (BSG, Urteil v. 21.3.1978, 7/12/7 RAr 41/76, SozR 1500 § 150 Nr. 11).
Rz. 19b
Wesentlich ist der Verfahrensfehler dann, wenn die Entscheidung hierauf beruhen kann. Das ist der Fall, wenn das SG ohne den Fehler möglicherweise anders entschieden hätte (Krasney/Udsching, VIII Rn. 31). Die Frage, ob ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliegt, ist anhand der materiell-rechtlichen Auffassung des SG zu beantworten. Denn andernfalls würde die verfahrensrechtliche Prüfung mit einer materiell-rechtlichen Prüfung vermischt; diese ist erst in einem zweiten Schritt zulässig, nämlich nach Eröffnung des Berufungsverfahrens (Leitherer, SGG, § 144 Rn. 35). Bei Mängeln in der Urteilsbegründung (zu den Anforderungen eingehend: LSG NRW, Urteil v. 5.9.2001, L 10 SB 70/01; LSG NRW, Urteil v. 23.1.2002, L 10 SB 142/01; LSG NRW, Urteil v. 20.2.2002, L 10 V 41/01; LSG NRW, Urteil v. 20.2.2002, L 10 SB 141/01) ist i. d. R. anzunehmen, dass dies gleichermaßen Mängel auf dem Weg zum Urteil gewesen sind (BSG, Urteil v. 25.1.1984, 9a RV 2/83, Breithaupt 1984 S. 915).
Rz. 20
Beispiel:
Das Verfahren des SG leidet an einem wesentlichen Mangel, wenn es ein Prozessurteil erlassen hat, obwohl es ein Sachurteil hätte erlassen müssen. Das Sozialgericht darf die Klage nicht als unzulässig abweisen mit der Begründung, es fehle an der Behauptung einer Beschwer, weil der Kläger seine Klage nicht begründet habe. Die Klage ist nämlich nicht schon dann unzulässig, wenn der Kläger trotz Aufforderung des Gerichts Einzelheiten nicht mitteilt. In einem solchen Fall hat das Gericht die Verwaltungsvorgänge beizuziehen und selbst zu prüfen, ob eine Rechtsverletzung vorliegt. Zwar soll nach § 92 SGG die Klage auch die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben. Diese Erfordernisse der Klage sind jedoch keine wesentlichen Merkmale. Ihr Fehlen macht die Klage nicht unwirksam (LSG NRW, Urteil v. 12.1.2000, L 12 AL 210/99).
Das Recht auf rechtliches Gehör kann verletzt sein, wenn das Gericht über eine Klage entscheidet, bevor der Beschluss über die Ablehnung von Prozesskostenhilfe rechtskräftig ist. Ein solcher Verfahrensfehler führt im sozialgerichtlichen Verfahren nur dann zur Zulassung der Berufung, wenn die Entscheidung auf der Gesetzesverletzung beruhen kann. Das ist jedenfalls bei einer von vornherein aussichtslosen Prozessführung nicht der Fall (LSG BW, Beschluss v. 12.2.2007, L 7 SO 2173/06 NZB).
Die nach § 547 ZPO unwiderlegbare Vermutung für die Ursächlichkeit der Gesetzesverletzung gilt nach § 202 SGG auch für den Zulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 5.6.2003, L 1 RA 93/99 NZB).
Die Unterlassung der Beiladung der Körperschaft des öffentlichen Rechts, die die im Verfahren angefochtenen Ausgangsbescheide erlassen hat, stellt einen Verfahrensmangel dar, der die Zulassung der Berufung rechtfertigt (LSG Niedersachsen, Beschluss v. 9.8.2001, L 3/5 KA 12/00 NZB).