2.4.1 Einführung
Rz. 27
Von der Möglichkeit der Auslegung ist diejenige der Umdeutung zu unterscheiden: Letztere greift erst dann, wenn trotz Auslegung feststeht, dass das Rechtsgeschäft nichtig, der Verwaltungsakt fehlerhaft oder das Rechtsmittel unzulässig ist (vgl die Systematik von §§ 133, 140 BGB; zum Vorrang der Auslegung auch BGH, Beschluss v. 6.7.2000, VII ZB 29/99, NJW 2000 S. 3215). Die Umdeutung bildet keinen Unterfall der Auslegung, denn während die Auslegung der Ermittlung des realen Willens dient, stellt die Umdeutung auf einen hypothetischen Willen ab (BGH, Urteil v. 15.12.1955, II ZR 204/54, BGHZ 19 S. 273). Umdeutung ist die Ersetzung oder Modifikation einer Erklärung durch eine andere mit gleichwertigen Ergebnis unter der Voraussetzung, dass dieses in Kenntnis der Fehlerhaftigkeit der Erklärung gewollt wäre (zur Umdeutung gem. § 43 SGB X vgl. BSG, Urteil v. 24.2.2011, B 14 AS 87/09 R). Demgegenüber wird die Auslegung dadurch gekennzeichnet, dass es um die Korrektur der äußeren Erklärung bzw. des Verständnisses dieser Erklärung ohne Änderung des rechtlichen Wesensgehalts geht (vgl. § 133 BGB). Die Auslegung einer Willenserklärung soll den rechtlich maßgebenden Sinn der Erklärung ermitteln (BGH, Urteil v. 28.1.1987, IVa ZR 191/85, FamRZ 1987 S. 476). Ihre Aufgabe erstreckt sich auf die Vorfrage, ob ein Verhalten den Tatbestand einer Willenserklärung erfüllt (BGH, Urteil v. 15.5.1986, IX ZR 96/85, MDR 1986 S. 1020), insbesondere ob ein Rechtsbindungswille besteht (BGH, Urteil v. 22.6.1956, I ZR 198/54, BGHZ 21 S. 106). Vorrangig ist der Inhalt mehrdeutiger oder lückenhafter Willenserklärungen zu bestimmen (Ahrens, in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 4. Aufl. 2009, § 133 Rn. 1). Mittels Auslegung soll der Wille festgestellt werden. Da dieser in irgendeiner Weise nach außen erkennbar und damit verkörpert sein muss (BGH, Urteil v. 3.2.1967, VI ZR 114/65, BGHZ 47 S. 78), kann der reine Wille weder Gegenstand noch Ziel der Auslegung sein (Ahrens, a. a. O.). Im Fall einer unzulässigen Berufung an Stelle einer Nichtzulassungsbeschwerde käme sonach eine Auslegung im Sinne des zulässigen Rechtsmittels allenfalls dann in Betracht, wenn außer der Bezeichnung alle übrigen Ausführungen für eine Beschwerde sprächen.
2.4.2 Auslegung
Rz. 28
Die Berufungsschrift muss nicht förmlich als solche bezeichnet sein. Ob eine Berufung eingelegt ist, ist im Wege der Auslegung des entsprechenden Schriftsatzes und der sonst vorliegenden Unterlagen zu entscheiden. Dabei sind, wie auch sonst bei der Auslegung von Prozesserklärungen, alle Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu berücksichtigen, die dem Gericht bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist bekannt geworden sind. Als Prozesserklärung muss ein Rechtsmittel sinnvoll und unter Beachtung des Willens des Erklärenden ausgelegt werden, wie er den äußerlich in Erscheinung getretenen Umständen üblicherweise zu entnehmen ist (vgl. BSG, Beschluss v. 8.12.2005, B 13 RJ 289/04 B, SozR 4-1500 § 151 Nr. 2; BGH, Beschluss v. 22.1.2002, VI ZB 51/01, NJW 2002 S. 1352; Leitherer, SGG, § 151 Rn. 11 m. w. N.). Für den Inhalt einer Berufungsschrift genügt das deutlich erkennbare Begehren nach einer Überprüfung des Urteils der ersten Instanz im Rechtsmittelweg (BSG, Urteil v. 24.4.1991, 9a RV 9/90). Ausreichend ist in der Regel, dass der Kläger seine Unzufriedenheit mit dem Urteil zum Ausdruck bringt.
Der Kläger legt eine Berufung dann ein, wenn er in der Rechtsmittelschrift deutlich macht, dass das erstinstanzliche Urteil durch eine höhere Instanz überprüft werden soll und Anhaltspunkte für eine Zulassung der Revision fehlen; eine Bezeichnung des Rechtsmittels als "Revision" ist dann unschädlich (BSG, Beschluss v. 8.12.2005, B 13 RJ 289/04 B, SozR 4-1500 § 151 Nr. 2). Bei der Auslegung ist ferner zu beachten, dass das Rechtsstaatsprinzip eine Anwendung des Verfahrensrechts verbietet, das den Beteiligten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Rechtsmittelinstanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert (BVerfG, Beschluss v. 2.12.1987, 1 BvR 1291/85, BVerfGE 77 S. 275, 284 m. w. N.; vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 25.3.2010, 1 BvR 882/09, WM 2010 S. 794).
2.4.3 Umdeutung
Rz. 29
Wird der Beteiligte sachkundig vertreten, besteht für eine Umdeutung kein Raum (vgl. Greger, NJW 2002 S. 3049, 3053). Das kann allerdings nur dann gelten, wenn die Rechtsbehelfsbelehrung eindeutig ist. Fehlt es daran, mag im Einzelfall eine nicht statthafte Berufung in eine Beschwerde umgedeutet werden können.
Rz. 30
Eine Berufung kann grundsätzlich nicht in eine Nichtzulassungsbeschwerde umgedeutet werden (BSG, Beschluss v. 6.2.1997, 14/10 BKg 14/96, SozR 3-1500 § 144 Nr. 11). Umgekehrt kann eine Nichtzulassungsbeschwerde grundsätzlich nicht in eine Berufung umgedeutet werden (vgl. LSG Thüringen, Urteil v. 27.1.2011, L 9 AS 799/08; LSG Sachsen, Urteil v. 3.11.2010, L 1 AL 127/10). Die Umdeutung der Berufung eines rechtskundig vertretenen Beteiligten in eine Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig (