Rz. 17
§ 153 Abs. 4 erlaubt eine Zurückweisung der Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss auch für den Fall, dass einer der Beteiligten oder beide sich gegen dieses Verfahren wenden und eine mündliche Verhandlung verlangen, denn die Beteiligten müssen einer Entscheidung des Berufungsgerichts durch Beschluss nicht zustimmen (vgl. BSG, Beschluss v. 13.11.2001, B 9 SB 34/01 B; BSG, Urteil v. 17.9.1997, 6 RKa 97/96, SozR 3-1500 § 153 Nr. 4). Die Entscheidung des LSG, bei Vorliegen der im Gesetz genannten Voraussetzungen ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen.
Rz. 18
Die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten des Berufungsgerichts zur Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung sind in § 153 Abs. 4 dann eingeschränkt, wenn in erster Instanz – ohne oder sogar gegen den Willen der Beteiligten – ein Gerichtsbescheid ergangen ist oder das SG aus sonstigen Gründen verfahrensfehlerhaft ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (BSG, Beschluss v. 6.4.2011, B 4 AS 188/10 B; Urteil v. 21.6.1994, 9 BV 38/94). Vom vereinfachten Verfahren ist dann abzusehen, wenn ein Verfahrensbeteiligter noch nicht die Möglichkeit hatte, sein Anliegen persönlich vorzutragen. Das wiederum gilt dann nicht, wenn das Sozialgericht nach § 124 Abs. 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (vgl. BSG, Beschluss v. 14.10.2005, B 11a AL 45/05 B; BVerwG, Urteil v. 22.1.1998, 2 C 4/97, NVwZ 1999 S. 404). Jedenfalls soll sichergestellt werden, dass eine mündliche Verhandlung - gleich in welcher Instanz – durchgeführt wird. Die Garantie einer öffentlichen Anhörung im Laufe eines mehrinstanzlichen Verfahrens in Art. 6 Abs. 1 EMRK schützt lediglich gegen Vorenthaltung durch das Gericht, nicht gegen den Verzicht auf mündliche Verhandlung durch die Beteiligten. Nicht anwendbar ist Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Streitigkeiten der Kriegsopferversorgung und nach dem SchwbG (BSG, Urteil v. 21.6.1994, 9 BV 38/94). Nach der ausdrücklichen Regelung des § 142 Abs. 1 SGG gilt § 136 SGG ausschließlich für Beschlüsse, die nach mündlicher Verhandlung ergehen, also nicht für solche nach § 153 Abs. 4 (BSG, Urteil v. 30.10.1997, 13 RJ 31/97, SozR 3-1500 § 142 Nr. 1; Urteil v. 11.3.1998, B 9 SB 6/97 R; Beschluss v. 8.7.1998, B 11 AL 89/98 B). Ungeachtet dessen müssen die Beschlussgründe erkennen lassen, welche Überlegungen für die richterliche Überzeugungsbildung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht maßgeblich gewesen sind (BSG, Urteil v. 11.3.1998, B 9 SB 6/97 R).
Rz. 19
Eine Verletzung des § 153 Abs. 4 führt zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit Berufsrichtern und damit zum Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes gemäß § 202 SGG i. V. m. § 551 Nr. 1 ZPO (BSG, Beschluss v. 6.4.2011, B 4 AS 188/10 B; Beschluss v. 8.11.2001, B 11 AL 37/01 R; BSG, Urteil v. 2.5.2001, B 2 U 20/00 R, SozR 3-1500 § 153 Nr. 13; vgl. auch BSG, Beschluss v. 8.11.2005, B 1 KR 76/05 B, SozR 4-1500 § 158 Nr. 2, zu § 158 SGG).
Rz. 20
Ergeht ein Folgebescheid, der über § 153 Abs. 1 i. V. m. § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens wird, kann nicht mehr durch Beschluss entschieden werden (BSG, Urteil v. 31.7.2002, B 4 RA 28/02 R; LSG NRW, Urteil v. 21.11.2001, L 10 V 40/00; Keller, SGG, § 153 Rn. 14). Soweit die Auffassung vertreten wird, auch in solchen Fällen könne nach § 153 Abs. 4 entschieden werden (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 19.3.2008, L 3 R 1682/05; LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 29.12.1997, L 3 Ar 3550/96, Breithaupt 1998 S. 761; Wickinghoff, SGb 1995 S. 59; Wagner, in: Henning, SGG, § 153 Rn. 62; Knecht, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 153 Rn. 75), da die Norm die Verfahrensökonomie höher bewerte als das Mündlichkeitsprinzip (so Wagner, a. a. O.), steht dem entgegen, dass die Norm als Ausnahmetatbestand eng auszulegen ist (so auch Wagner, a. a. O., Rn. 23) und nicht jeder beliebige tatsächlich oder vermeintliche effizienzsteigernde Ansatz es rechtfertigt, grundlegende Verfahrensprinzipien aufzugeben.
Rz. 21
Hat das LSG eine Beweisaufnahme durchgeführt, steht dies einer Entscheidung durch urteilsersetzenden Beschluss grundsätzlich nicht entgegen (vgl. BSG, Beschluss v. 10.8.2005, B 9a V 21/05 B, SozR 4-1500 § 153 Nr. 2; Beschluss v. 13.10.1993, 2 BU 79/93, SozR 3-1500 § 153 Nr. 1; BVerwG NvwZ 1999 S. 1108; Zeihe, SGG, § 153 Rn. 18a; Redeker/von Oertzen, VwGO, 14. Aufl. 2004, § 130a Rn. 1; Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 130a Rn. 7).
Rz. 22
Ob nach Terminierung, aber vor Durchführung einer mündlichen Verhandlung noch ein urteilsersetzender Beschluss zulässig ist, wird unterschiedlich beurteilt. Überwiegend wird der Verfahrenswechsel für zulässig erachtet (zu § 522 ZPO bejahend: vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 3.2.2005, II-4 UF 150/04, 4 UF 150/04, NJW 2005 S. 833; OLG Celle, Beschluss v. 6.5.2009, 9 U 162/08; Musielak/Ball, ZPO, 8. Aufl. 2011, § 522 Rn. 20; Zöller/Heßler, ZPO, 29. Aufl. 2012, § 522 Rn. 31; a. A. OLG Zweibrücken, Be...