Rz. 29
Die Anhörungsmitteilung im vereinfachten Verfahren hat eine besondere Bedeutung. Hier ist jede Nachlässigkeit verfehlt. Sie soll sicherstellen, dass bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens das rechtliche Gehör gewahrt bleibt und zwischen dem Gericht und den Beteiligten eine Kommunikation über die beabsichtigte Verfahrensweise zu einem Zeitpunkt in Gang gesetzt wird, in dem die Beteiligten einerseits noch rechtzeitig Bedenken gegen das vereinfachte Verfahren vorbringen können, andererseits aber schon ernsthaft mit der Durchführung dieses Verfahrens rechnen müssen. Die solchermaßen umrissene Anhörungspflicht ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG), das im Beschlussverfahren nicht verkürzt werden darf. Ihm ist nur Genüge getan, wenn den Beteiligten Gelegenheit sowohl zur Äußerung von etwaigen Bedenken, die sie gegen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (und ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter) haben, als auch zur ausführlichen Stellungnahme in der Sache selbst eingeräumt wird. Die Anhörungsmitteilung soll nur sicherstellen, dass die Beteiligten sachgerechte Einwendungen erheben können. Eine formularmäßige Anhörungsmitteilung ohne Bezug auf den konkreten Fall genügt nicht. Seine Rechtsauffassung muss das Gericht nicht mitteilen (BSG, Beschluss v. 16.3.1994, 9 BV 151/93; BSG, Urteil v. 13.10.1993, 2 BU 79/93, SozR 3-1500 § 153 SGG Nr. 1; BSG, Urteil v. 31.8.1993, 2 BU 61/93). Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (BSG, Beschluss v. 13.5.2011, B 12 R 25/10 B). Etwas anderes gilt nur dann, wenn der vom Berufungsgericht eingenommene Standpunkt dem Verfahren eine überraschende Wende gibt (vgl. Keller, SGG, § 62 Rn 8a f.).
Rz. 30
Aus der Anhörung muss ersichtlich sein, dass die Beteiligten die Gelegenheit haben, Gründe für die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung vorzubringen oder Beweisanträge zu stellen (BSG, Urteil v. 17.9.1997, 6 RKa 97/96, SozR 3-1500 § 153 Nr. 4; Beschluss v. 10.3.2004, B 6 KA 118/03 B). Deshalb muss jedenfalls einem nicht vertretenen Berufungskläger vor Entscheidung über die Berufung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 Satz 1 nicht nur diese Verfahrensweise angekündigt werden; er muss auch auf seine Äußerungsmöglichkeit hingewiesen werden (BSG, Urteil v. 21.6.2001, B 7 AL 94/00 R, SozR 3-1500 § 153 Nr. 14). Der zugestellten Anhörungsmitteilung muss ein rechtskundig vertretener Beteiligter entnehmen können, dass das LSG keine weitere Sachaufklärung mehr beabsichtigt und es etwaige schriftsätzlich gestellte Beweisanträge i. S. d. § 160 Abs. 2 Nr. 3 als erledigt ansieht. Das Gericht muss vor dem angekündigten Beschluss nicht mitteilen, wie es den Vortrag gewürdigt hat (BSG, Beschluss v. 16.3.1994, 9 BV 151/93).
Rz. 31
Eine Anhörungsmitteilung ist nicht von vornherein fehlerhaft, wenn nur auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach § 153 Abs. 4 hingewiesen wird, ohne die Art und Weise der Entscheidung zu erläutern; zumindest aber muss der nicht anwaltlich vertretene Kläger in der Anhörungsmitteilung darauf hingewiesen werden, dass die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergehen soll und dass im Rahmen der beabsichtigten Verfahrensweise eine Zurückweisung der Berufung in Betracht kommt (BSG, Beschluss v. 20.10.1999, B 9 SB 4/98 R, SozR 3-1500 § 153 Nr. 8; BVerwG, Urteil v. 21.3.2000, 9 C 39/99: Die Anhörung zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO muss unmissverständlich erkennen lassen, wie das Berufungsgericht zu entscheiden beabsichtigt; vgl. auch LSG NRW, Urteil v. 5.9.2001, L 10 SB 70/01; LSG NRW, Urteil v. 7.11.2001, L 10 SB 50/01; Keller, SGG, § 153 Rn. 19). Fraglich ist, ob ein rechtskundig vertretener Beteiligter darauf hingewiesen werden muss, dass das Gericht die Berufung als unbegründet ansieht (so wohl BVerwG, Urteil v. 21.3.2000, 9 C 39/99, NJW 2000 S. 3368), oder ob es ausreicht, wenn ihm mitgeteilt wird, es komme eine Entscheidung nach § 153 Abs. 4 in Betracht (so BSG, Urteil v. 20.10.1999, B 9 SB 4/98 R, SozR 3-1500 § 153 Nr. 8; Keller, SGG, § 153 Rn. 19; Zeihe, SGG, § 153 Rn. 21a). Letzteres wird grundsätzlich ausreichen, denn von einem rechtskundigen Bevollmächtigten ist zu erwarten, dass er Bedeutung und Inhalt des § 153 Abs. 3 kennt. In der fälschlichen Verwendung des Begriffs "Gerichtsbescheid" statt "Beschluss" im Anhörungsschreiben an die Beteiligten liegt kein Fehler von solchem Gewicht, dass die gesetzliche Funktion der Anhörung damit verfehlt worden wäre (BSG, Beschluss v. 28.8.2007, B 7/7a AL 180/06 B).
Rz. 32
Bei einem Zuständigkeitswechsel des Senats verliert die bereits erfolgte Anhörungsmitteilung des früheren Senats ihre Wirkung nicht ohne Weiteres. Denn die Anhörung setzt keine vorherige Meinungsbildung des Spruchkörpers über die...