Rz. 7

Das LSG erforscht den Sachverhalt von Amts wegen. Ein in der ersten Instanz gestellter und noch nicht verbrauchter Beweisantrag braucht nicht wiederholt zu werden; er ist weiter beachtlich (BVerwG, Beschluss v. 6.12.1993, 8 B 143/93, NJW 1994 S. 2243). Das LSG muss allerdings nicht das gesamte erstinstanzliche Verfahren wiederholen. Es kann die Ergebnisse erstinstanzlicher Beweisaufnahmen, sofern sie rechtmäßig durchgeführt worden sind und von den Beteiligten nicht substantiiert angegriffen werden, übernehmen. Das LSG ist an die Beweiswürdigung des SG nicht gebunden; es kann die Beweise anders würdigen.

 

Rz. 8

Sofern das SG über einen Anspruch nicht entschieden hat, kann das LSG dies auch dann nicht nachholen, wenn alle Beteiligten einwilligen. Dann ist eine Urteilsergänzung zu beantragen (Zeihe, SGG, § 157 Rn. 2a). Soweit hierzu die Auffassung vertreten wird, dass ein übergangener Anspruch dann Gegenstand des Berufungsverfahrens werden kann, wenn alle Beteiligten zustimmen (BGH, Urteil v. 25.3.1986, IX ZR 104/85, NJW 1986 S. 2112; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 157 Rn. 2a; dagegen Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 128 Rn. 1), wird übersehen, dass § 140 lex specialis ist (Zeihe, a. a. O.). Im Übrigen steht dieser Ansicht entgegen, dass das erstinstanzliche Verfahren in diesem Fall zwar formell durch Urteil beendet worden, rechtlich aber nicht abgeschlossen ist. Hat das SG über einen Anspruch im Sinne eines Streitgegenstands nicht entschieden, ist das Verfahren weiter vor dem SG anhängig. Die Beteiligten haben aber – vorbehaltlich der zulässigen Klageerweiterung – weder in diesem Fall noch sonst die Befugnis, durch Vereinbarung die Zuständigkeit des Berufungsrechtszugs zu begründen.

 

Rz. 9

Ausgehend hiervon kann das LSG auch nicht über einen Folgebescheid entscheiden, der nach § 96 Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens geworden ist, vom SG aber übersehen wurde. Die hiergegen gerichtete Klage bleibt trotz Entscheidung des SG in der ersten Instanz anhängig. Die Beteiligten können diesen Streitgegenstand weder durch Vereinbarung noch durch Einverständniserteilung gegenüber dem LSG in den Berufungsrechtszug bringen. Stattdessen ist nach § 140 zu verfahren (Zeihe, SGG, § 140 Rn. 3c; a. A. Keller, SGG, § 157 Rn. 2b).

 

Rz. 10

Nach verbreiteter Auffassung ist es unabhängig von § 140 über die Rechtsfigur des sog. "Heraufholens von Prozessresten" möglich, von der Vorinstanz versehentlich übergangenen Prozessstoff in die nächste Instanz "heraufzuholen". Mittels dieser Konstruktion sollen verfahrensfehlerhaft in der Vorinstanz anhängig geblieben Prozessreste ausnahmsweise vom Rechtsmittelgericht in dessen Verfahren einbezogen werden können (hierzu Arndt, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 157 Rn. 6 ff; Peters/Sauter/Wolff, SGG, 5/2009, § 157 Rn. 4; Bernsdorff, in: Henning, SGG, § 157 Rn. 9 ff.). Die Entscheidung des LSG ist dann eine solche erster Instanz (LSG Sachsen, Beschluss v. 24.7.2003, L 2 U 105/00). Ein nachträgliches Heraufholen von Prozessresten setzt voraus, dass die Berufung an sich statthaft ist. Dagegen ist es nicht möglich, durch nachträgliche Erweiterung des Streitgegenstands eine unzulässige Berufung zulässig zu machen (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 12.2.2003, L 3 KA 66/01).

 

Rz. 11

Im Übrigen ist zu unterscheiden. Das SG hat

  1. rechtsfehlerfrei und bewusst über einen Anspruch oder Anspruchsteil nicht entschieden;
  2. absichtlich, aber rechtsirrig nicht in vollem Umfang über den Streitfall entschieden hat, weil es infolge Rechtsirrtums glaubte, über einen Teil des Streitgegenstandes nicht entscheiden zu müssen (verdecktes Teilurteil);
  3. versehentlich (d. h. nicht infolge Rechtsirrtums) über einen separaten oder abtrennbaren Teil des Streitgegenstandes nicht entschieden;
  4. rechtsfehlerhaft unbewusst über einen Anspruch oder Anspruchsteil nicht entschieden.
 

Rz. 12

Zu a)

Der Anspruch bleibt in der ersten Instanz anhängig. Ein Heraufholen scheidet aus (BVerwG, Urteil v. 28.2.1985, 2 C 14/84, NJW 1986 S. 862); anders allerdings BGH, Urteil v. 25.3.1986, IX ZR 104/85, NJW 1986 S. 2108:

"Allerdings darf das Rechtsmittelgericht, bei dem ein Teilurteil im Sinne von § 301 ZPO angefochten worden ist, den vom unteren Gericht noch nicht entschiedenen Teil des Streitgegenstandes nur in Ausnahmefällen an sich ziehen; es hat sich im übrigen an den Grundsatz des § 537 ZPO zu halten, daß das Berufungsgericht nicht befugt ist, über den Teil des Streitgegenstandes zu entscheiden, der noch im ersten Rechtszug anhängig ist (BGHZ 30, 213). In dieser Entscheidung des VI. Zivilsenats und seinem Urteil vom 7. Juni 1983 – VI ZR 171/81, LM ZPO § 537 Nr. 12) ist offengeblieben, ob jener Grundsatz, dem der VI. Zivilsenat entgegen der früheren Rechtsprechung weitere Geltung verschaffen wollte, durchbrochen werden kann, wenn beide Parteien das Rechtsmittelgericht um Entscheidung des gesamten Streitgegenstandes angehen oder ein solches Einverständnis infolge Rügeverzichts zu vermuten ist. Der erkennende Se...

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