1 Allgemeines
Rz. 1
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist ein durch Art. 103 Abs. 1 GG garantiertes prozessuales Grundrecht. Diese Gewährleistung soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl. BVerfG, Beschluss v. 29.5.1991, 1 BvR 1383/90, NJW 1991 S. 2823; BSG, Beschluss v. 19.12.2016, B 9 SB 17/16 B; Beschluss v. 14.12.2016, B 13 R 204/16 B). Maßgebend ist der Gedanke, dass ein Verfahrensbeteiligter Gelegenheit haben muss, durch seinen Vortrag die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen (BVerfG, Beschluss v. 2.6.2010, 1 BvR 448/06, NZS 2011 S. 133; BSG, Beschluss v. 18.1.2011, B 2 U 268/10 B, UV-Recht Aktuell 2011 S. 506). Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht daher, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (BVerfG, Beschluss v. 30.10.1990, 2 BvR 562/88, BVerfGE 83, 24, 35; BSG, Beschluss v. 19.12.2016, B 9 SB 17/16 B). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Eine Verpflichtung, jedes Vorbringen in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden, besteht allerdings nicht (BSG, Beschluss v. 19.12.2016, B 9 SB 17/16 B). Ferner soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. BVerfG, Beschluss v. 18.11.1987, 1 BvR 158/78, BVerfGE 50 S. 32, 35; BVerfG, Beschluss v. 27.2.1980, 1 BvR 277/78, BVerfGE 53 S. 219).
Rz. 2
Das BVerfG kann nur dann feststellen, dass ein Gericht seine Pflicht verletzt hat, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Falles ergibt (BVerfG, Beschluss v. 23.1.2017, 2 BvR 2272/16; Urteil v. 8.7.1997, 1 BvR 1621/94, BVerfGE 96 S. 205, 216 f.; vgl. auch Beschluss v. 19.12.2016, 2 BvR 1997/15 <Beweisangebot>; BSG, Beschluss v. 19.12.2016, B 9 SB 17/16 B; dazu auch Rz. 11). Besondere Umstände liegen etwa vor, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrages einer Partei zu einer zentralen Frage des Verfahrens nicht in den Entscheidungsgründen eingeht (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 21.5.2003, L 10 KA 52/02 m. w. N.). In diesem Sinn gebietet es Art. 103 Abs. 1 GG i .V. m. den Grundsätzen der einschlägigen prozessualen Normen jeden Schriftsatz zu berücksichtigen, der innerhalb einer gesetzlichen oder richterlich bestimmten Frist bei Gericht eingeht (vgl. BVerfG, Beschluss v. 13.3.1973, BvR 484/72, BVerfGE 34 S. 344). Nicht entscheidend ist, dass sich der Schriftsatz im Geschäftsgang des Gerichts befand und dem zuständigen Richter versehentlich nicht rechtzeitig vorgelegt wurde. Das Gericht ist insgesamt dafür verantwortlich, dass das Gebot des rechtlichen Gehörs eingehalten wird (Frehse, SGb 2007 S. 509). Auf ein Verschulden kommt es dabei nicht an (BVerfG, Urteil v. 10.7.1984, 1 BvR 608/84, BVerfGE 67 S. 199; Beschluss v. 27.2.1980, 1 BvR 277/78, BVerfGE 53 S. 219).
2 Rechtspraxis
2.1 Grundsatz
Rz. 3
Seine einfachgesetzliche Ausformung findet der Grundsatz nicht nur in § 62, sondern auch in zahlreichen weiteren Regelungen des SGG, etwa in §§ 112, 120, 128 SGG. Beteiligte müssen vor Erlass einer Entscheidung Gelegenheit haben, sich zum Streitgegenstand zu äußern und gehört zu werden (BVerfG, Beschluss v. 2.6.2010, 1 BvR 448/06, NZS 2011 S. 133; vgl. schon Rz. 1). Die Anhörung kann schriftlich erfolgen. Mittels des Gesetzes über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz (Justizkommunikationsgesetz – JkomG) wurde die Vorschrift mit Wirkung zum 1.4.2005 um einen zweiten Halbsatz ergänzt und an die Möglichkeit des elektronischen Rechtsverkehrs angepasst. Nach der Ergänzung der Vorschrift kann rechtliches Gehör auch auf elektronischem Wege gewährt werden (vgl. BT-Drs. 15/4067 S. 40 f.). Voraussetzung ist eine Verordnung nach § 65a SGG (vgl. dort).
Rz. 4
Die Vorschrift bezieht sich auf alle gerichtlichen Entscheidungen. Sie gilt auch für Nebenverfahren wie etwa Ablehnung wegen Befangenheit, Prozesskostenhilfeverfahren oder Verfahren über ein Ordnungsmittel. Keine Anhörung erforderlich ist bei Verbindung, Trennung, Beiladung, dem Erlass eines Beweisbeschlusses, der Aufnahme eines ausgesetzten oder ruhenden Verfahrens, prozessleitenden Verfügungen und anderen vorbereitenden Maßnahmen. Ausnahmsweise ist auch nicht am Verfahren Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren, wenn nämlich – wie etwa bei der Festsetzung von Ordnungsmitteln gegen Sachverständige oder Zeugen – eine Entscheidung gegen sie ergeht. Der Anhörung des Betroffenen selbst steht die Anhörung seines gesetzlichen Vertreters oder Bevollmächtigten gleich. Der Grundsatz der Wahrung rechtlichen Gehörs gebietet nicht, dass das Gericht der vom Betroffenen vorgetragenen Position inhaltlich oder bei der Gewichtung der Argumente folgt (BSG, Beschluss v. ...