Rz. 5
§ 78 Abs. 1 Satz 2 sieht verschiedene Ausnahmen von der Vorverfahrenspflicht vor. Sie alle haben ihre Berechtigung darin, dass dem Gesetzgeber eine nochmalige Überprüfung des Verwaltungsakts aufgrund der Qualifikation der erlassenden Behörde oder der Fachkenntnisse des Klägers nicht erforderlich erscheint (Kummer, SGb 2001, 705, 711). Über die gesetzlich ausdrücklich geregelten Fälle hinaus ist ein Vorverfahren nach allgemeiner Meinung nicht erforderlich in den Fällen des § 96 (vgl. BSG, SozR 3-2500 § 85 Nr. 12) sowie bei der Verurteilung eines Beigeladenen nach § 75 Abs. 5 (vgl. BSG, SozR Nr. 27 zu § 75). Für einen im Wege der Klageänderung nach § 99 Abs. 1 in das Verfahren einbezogenen Bescheid hält das BSG dann eine Widerspruchsentscheidung für entbehrlich, wenn der neue Verwaltungsakt die im Ausgangsbescheid getroffene Regelung für einen späteren Zeitraum wiederholt und das geänderte Klagebegehren im Wesentlichen denselben Streitstoff betrifft wie das ursprünglich durchgeführte Vorverfahren, sofern die Rechtsbehelfsfristen eingehalten sind und die übrigen Beteiligten in die Klageänderung einwilligen (BSG, SozR 3-2500 § 85 Nr. 12; BSGE 78 S. 98, 103; Zeihe, § 78 Rn. 6a verneint generell die Möglichkeit, durch Klageänderungen den Vorverfahrenszwang zu umgehen). Im Hinblick auf die Funktion des Vorverfahrens muss eine Einbeziehung ohne einen Widerspruchsbescheid aber die Ausnahme sein und im Grundsatz für die Klageänderung das Vorliegen der üblichen Prozessvoraussetzungen wie für eine neue Klage gefordert werden (vgl. BSG, SGb 2006 S. 41; BSG, SGb 2005 S. 230). Auch in dem Fall, dass ein Widerspruchsbescheid gegenüber dem ursprünglichen Verwaltungsakt eine zusätzliche selbständige Beschwer enthält, kann auf ein Vorverfahren verzichtet werden (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 78 Rn. 8).
3.1 Gesetzlich vorgesehene Ausnahmen
Rz. 6
Ausnahmen vom Vorverfahrenszwang können gesetzlich vorgesehen sein, § 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1. Es muss sich um ein formelles Gesetz oder eine Rechtsverordnung handeln (ablehnend für die Rechtsverordnung Kopp/Schenke, § 68 Rn. 17a; Meyer-Ladewig/Keller/Leithrer, § 78 Rn. 5; Zeihe, § 78 Rn. 8), nicht möglich ist der Ausschluss in einer Satzung oder sonstigen Regelung im Bereich der Selbstverwaltungsautonomie (vgl. BSG, SozR 3-1500 § 78 Nr. 5; BSG, SozR 1500 § 78 Nr. 26). Gesetzliche Ausnahmen finden sich vor allem im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung, etwa in §§ 35 Abs. 7 Satz 3, 36 Abs. 3, 81 Abs. 5 Satz 4, 92 Abs. 3 Satz 3 SGB V.
Rz. 7
Besonderheiten bestehen im Vertragsarztrecht. Die Verfahren vor den Berufungsausschüssen, die gegen Entscheidungen der Zulassungsausschüsse über die Teilnahme von Ärzten und Psychotherapeuten an der vertragsärztlichen Versorgung angerufen werden können, sowie vor den Beschwerdeausschüssen, die gegen Entscheidungen der Prüfungsausschüsse über die Wirtschaftlichkeit in der vertragsärztlichen Versorgung angerufen werden, sind keine Widerspruchsverfahren, sondern besondere Verwaltungsverfahren in einer zweiten Verwaltungsinstanz, die dem Widerspruchsverfahren lediglich gleichgestellt sind, §§ 97 Abs. 3 Satz 2, 106 Abs. 5 Satz 6 SGB V. Weil es sich um eigenständige Verfahren handelt, findet insbesondere § 95 SGG keine Anwendung. Gegenstand des Klageverfahrens sind allein die Beschlüsse des Berufungs- oder Beschwerdeausschusses (vgl. BSGE 74, 59 zu den Beschwerdeausschüssen und BSG, SozR 3-2500 § 96 Nr. 1 für die Berufungsausschüsse).
3.2 Oberste Bundes- oder Landesbehörden als Ausgangsbehörden
Rz. 8
Ein Vorverfahren ist weiter entbehrlich, wenn der Verwaltungsakt von einer obersten Bundes- oder Landesbehörde oder vom Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit erlassen worden ist, § 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2. Das Gesetz unterstellt die besondere fachliche Qualifikation dieser Behörden. Oberste Bundesbehörden sind der Bundespräsident, der Bundeskanzler, die Präsidenten des Bundestages und Bundesrates, des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesrechnungshofes sowie alle Bundesministerien. Oberste Landesbehörden sind i. d. R. der Ministerpräsident, die Landesministerien und der Landesrechnungshof (vgl. ausführlich Peters/Sautter/Wolff, § 78 Rn. 4d, cc). Nicht erfasst von dieser Ausnahme werden Verwaltungsakte von Bundesoberbehörden, d. h. den Ministerien nachgeordneten Behörden, die sachlich für bestimmte Verwaltungsaufgaben und örtlich für das gesamte Bundesgebiet zuständig sind, wie z. B. das Bundesversicherungsamt. Ebenfalls nicht erfasst werden Verwaltungsakte von bundesunmittelbaren Sozialversicherungsträgern i. S. d. § 87 Abs. 2 Satz 1 GG. Ein Vorverfahren ist auch erforderlich, wenn eine oberste Bundes- oder Landesbehörde ihre Entscheidungsbefugnisse auf nachgeordnete Behörden delegiert hat (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 78 Rn. 6). Ausnahmsweise ist in den Fällen des § 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ein Vorverfahren dann erforderlich, wenn dies gesetzlich vorgesehen ist. Ein Bundesgesetz, das die Nachprüfung in einem Widerspruchsverfahren vorschreibt, ist z. B. § 88 Abs. 6 SVG.
3.3 Klage eines Landes, Versicherungsträgers oder Verbandes
Rz. 9
Eine Ausnahme vom Vorverfahrenszwang besteht nach § 78 Abs. 1 Sat...