Rz. 36
Die Durchbrechungen dieses Grundsatzes sind in § 86a Abs. 2 enumerativ aufgeführt (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 21.9.2007, L 7 AS 183/07 ER). Auch hier wird die Systematik des § 80 Abs. 1 und 2 VwGO übernommen. Überwiegend wird angenommen, dass in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 2 bis 4 dem Gesetz ein Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten des Suspensiveffektes zu entnehmen sei, da der Gesetzgeber die sofortige Vollziehung zunächst einmal angeordnet habe (LSG Bayern, Beschluss v. 3.5.2011, L 2 P 31/11 B ER; LSG NRW, Beschluss v. 23.3.2011, L 11 KA 97/10 B ER, L 11 KA 22/11 B ER, GuP 2011 S. 111; Beschluss v. 7.4.2011, L 5 KR 107/11 B ER, SGb 2011 S. 384; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 30.5.2005, L 5 ER 17/05 KA, Breithaupt 2005 S. 895; Keller, SGG, § 86a Rn. 12c für § 80 Abs. 2 VwGO: BVerwG, Beschluss v. 14.4.2005, 4 VR 1005/04, BVerwGE 123 S. 241, 244; Wehrhan, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 86a Rn. 3; Keller, SGG, § 86a Rn. 12). Davon abzuweichen bestehe nur Anlass, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten feststellbar sei. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung müsse daher eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme bleiben. Nach anderer Meinung können die Kriterien des § 86a Abs. 3 Satz 2 entsprechend herangezogen werden (z. B. LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 20.10.2003, L 13 AL 3445/03 ER-B; für § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO: BVerwG, Beschluss v. 17.9.2001, 4 VR 19/01, 4 A 40/0, NVwZ-RR 2002 S. 153). Schließlich wird die Auffassung vertreten, in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 2 bis 4 sei dem Gesetz kein Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten des Suspensiveffektes zu entnehmen; das vom Gesetzgeber in § 39 SGB II bzw. § 86a Abs. 2 Nr. 4 angeordnete vordringliche Vollzugsinteresse für das gerichtliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes habe vielmehr die Bedeutung, dass die Behörde von der ihr nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 obliegenden Pflicht entbunden werde, das öffentliche Interesse der sofortigen Vollziehbarkeit gesondert zu begründen (LSG Bayern, Beschluss v. 23.12.2009, L 8 AS 815/09 B ER). Letzteres mag so sein, ändert aber nichts an dem gesetzessystematisch und nach Sinn und Zweck der Norm vorgegebenen Regel-Ausnahme-Verhältnis.
2.2.1 Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten (Abs. 2 Nr. 1)
Rz. 37
Keine aufschiebende Wirkung haben Widerspruch und Klage bei Entscheidungen über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten oder der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben. Der Gesetzgeber hat hiermit das Vollzugsrisiko bei Abgabebescheiden bewusst auf den Adressaten verlagert. Diese gesetzliche Risikoverteilung würde unterlaufen, wenn bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens die Vollziehung ausgesetzt wurde. Das Gesetz bringt zum Ausdruck, dass in den Fällen des § 86a Abs. 2 das Vollziehungsinteresse in der Regel vorrangig ist.
Rz. 38
Bei den in § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG genannten Entscheidungen handelt es sich um solche, die die Deckung des Finanzbedarfs der Sozialversicherungsträger betreffen (LSG NRW, Beschluss v. 7.4.2011, L 5 KR 107/11 B ER, SGb 2011 S. 384). Damit wird die Funktionsfähigkeit der Leistungsträger sichergestellt (BT-Drs. 14/5943 S. 25 zu Nr. 34). Sie sind auf den Zufluss von Beiträgen, Umlagen und sonstigen gesetzlich vorgesehenen Abgaben angewiesen. Hätte jeder Rechtsbehelf gegen Beitragsbescheide aufschiebende Wirkung, wäre der Anreiz groß, regelmäßig hiervon Gebrauch zu machen (Wenner, SozSich 2001 S. 422, 423). Dementsprechend sind unter "Anforderungen" nicht nur Geldanforderungen zu verstehen, sondern alle Verwaltungsakte, die zur Verwirklichung des Anspruchs auf öffentliche Abgaben ergehen, z. B. auch Entscheidungen über die Versicherungspflicht (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 13.7.2011, L 22 LW 8/11 ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 14.2.2011, L 5 R 17/11 B ER; LSG NRW. Beschluss v.22.4.2009, L 8 B 2/09 LW ER; Krasney/Udsching, V Rn. 14).
Rz. 39
Nach § 7a Abs. 7 SGB IV haben Widerspruch und Klage gegen Entscheidungen, dass eine Beschäftigung vorliegt (Statusentscheidungen im Anfrageverfahren), aufschiebende Wirkung. Diese Vorschrift gilt nach dem Willen des Gesetzgebers nicht nur für die Statusentscheidung im Rahmen eines Anfrageverfahrens (vgl. § 28p SGB IV), sondern auch für Statusentscheidungen der übrigen Sozialversicherungsträger außerhalb dieses Verfahrens (LSG Hessen, Beschluss v. 12.1.2005, L 8/14 KR 110/04 ER; Seewald, in: Kasseler Kommentar, 4/2009, SGB IV, § 7a Rn. 25; Frehse, in: Jansen, SGB IV, 8/2009, § 7a Rn. 23; Baier, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, 5/2009, SGB IV, § 7a Rn. 21). Die Regelung ist demnach auf Entscheidungen der Rentenversicherungsträger im Rahmen von Betriebsprüfungen nach § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV anzuwenden. Indessen: Zwar sollte § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB IV nach der Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Selbständigkeit nicht nur für Statusentscheidungen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (jetzt: Deutsche Rentenversicherung Bund) gelt...