Rz. 57
Die einstweilige Anordnung nach Abs. 2 bildet zusammen mit dem Verfahren nach Abs. 1 den vorläufigen Rechtsschutz im SGG. Absatz 1 normiert die Voraussetzungen für den einstweiligen Rechtsschutz in Anfechtungssachen, hingegen regelt Abs. 2 die Voraussetzungen für eine einstweilige Anordnung in Vornahmesachen. Die Vorschrift ist § 123 VwGO nachgebildet und stimmt damit bis auf geringfügige Abweichungen wörtlich überein. Satz 1 entspricht unter Einbeziehung von Abs. 3 dem § 123 Abs. 1 Satz 1 und 5 VwGO (hierzu BT-Drs. 14/5943 S. 25). Satz 2 betrifft wie § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung, zählt indes keine Beispiele auf. Satz 3 stimmt wörtlich mit § 123 Abs. 3 Satz 2 VwGO überein und definiert das "Gericht der Hauptsache". Satz 4 entspricht § 123 Abs. 3 VwGO, abgesehen von dem nicht in Bezug genommenen § 941 ZPO.
Rz. 58
Nach § 86b Abs. 1 und Abs. 2 können vorläufige Regelungen getroffen werden, um zu verhindern, dass während des Hauptsacheverfahrens vollendete Tatsachen geschaffen oder perpetuiert werden. Das Verfahren nach Abs. 1 ermöglicht vorläufige Regelungen während des Anfechtungsprozesses einschließlich aller Streitigkeiten über Verwaltungsakte mit Drittwirkung; das Verfahren der einstweiligen Anordnung (Abs. 2) greift hingegen in allen anderen Fällen sozialgerichtlicher Klagemöglichkeiten nach Maßgabe der in Abs. 2 Satz 1 fixierten Subsidiaritätsklausel. Eine einstweilige Anordnung ist danach nur statthaft, wenn einstweiliger Rechtsschutz nach Abs. 1 (d. h. in Anfechtungssachen) nicht in Betracht kommt. Besteht also die Möglichkeit, dass die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bzw. der nachfolgenden Anfechtungsklage dem Begehren des Antragstellers hinreichend Rechnung trägt, ist ein Antrag nach Abs. 2 unzulässig. Abs. 2 greift in Fällen, bei denen der einstweilige Rechtsschutz nicht wie bei Abs. 1 dem Schutz vor den Folgen des Vollzuges eines noch nicht bestandskräftigen belastenden Verwaltungsaktes dient, sondern dem Schutz von Rechten, Rechtsverhältnissen oder Rechtspositionen, die im Verfahren zur Hauptsache im Wege entweder der Verpflichtungs- oder allgemeinen Leistungs- oder Unterlassungs- oder Feststellungsklage geltend zu machen sind (Peters/Sautter/Wolff, SGG, § 86b Rn. 55; Kopp/Schenke, VwGO, § 123 Rn. 4).
Rz. 59
Ungeachtet der gemeinsamen Zweckbestimmung sind beide Verfahren unterschiedlich strukturiert. Während das Ziel des Verfahrens nach Abs. 1 die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des dagegen eingelegten Rechtsbehelfs bzw. die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist, geht es im Verfahren nach Abs. 2 stets um einen bereits erlassenen Verwaltungsakt. Voraussetzung ist, dass ein belastender Verwaltungsakt ergangen ist und mindestens das Vorverfahren anhängig ist. Die Behörde hat das besondere Interesse an der Vollziehungsanordnung darzutun (§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG). Begründungsdefizite gehen zu ihren Lasten. Gegenstand des Verfahrens nach Abs. 2 ist hingegen nicht ein Verwaltungsakt, sondern ein Recht oder ein Rechtsverhältnis des Antragstellers. Verschiedenste Anordnungen kommen in Betracht. Ein anhängiges Hauptverfahren ist nicht erforderlich. Soweit Anordnungsvoraussetzungen nicht glaubhaft gemacht werden, geht dies zum Nachteil des Antragstellers. Zudem führt die Bezugnahme auf zahlreiche Normen der ZPO zu erheblichen Abweichungen zum Verfahren nach Abs. 1. Schließlich setzt sich der Antragsteller eines Antrags nach Abs. 2 der Gefahr von Schadensersatzansprüchen aus (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 945 ZPO), wohingegen § 945 ZPO im Anwendungsbereich des Abs. 1 nicht anwendbar ist.
Rz. 60
Bei der Abgrenzung zwischen dem Antrag auf Anordnung, Wiederherstellung oder Feststellung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 und dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 ist das Begehren des Antragstellers verständig auszulegen. Dabei ist u. a. wesentlich, ob er bei Eintritt der aufschiebenden Wirkung überhaupt eine vorteilhafte Rechtsposition zurückverlangt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 7.6.2.2008, L 7 B 170/07 KA ER).