Rz. 89
Für die Regelungsanordnung (Abs. 2 Satz 2) fordert das Gesetz, dass eine vorläufige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Es muss die Gefahr bestehen, dass die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Im Anschluss an die Rechtsprechung des BVerfG zum einstweiligen Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren (BVerfG, Beschluss v. 25.10.1999, 2 BvR 745/88, BVerfGE 79 S. 69, 74) wurde unter der Geltung des früheren Rechts von den Sozialgerichten ganz überwiegend gefordert, dass dem Antragsteller schwere irreparable und unzumutbare Nachteile drohen (vgl. nur LSG NRW, Beschluss v. 27.11.1997, L 11 SKa 35/91; Beschluss v. 24.6.1997, L 11 SKa 20/97; Beschluss v. 15.5.1996, L 11 SKA 21/98). Dieser Rechtsprechung ist infolge der gesetzlichen Neuregelung die Grundlage entzogen (vgl. Rz. 77; vgl. auch Frehse, in: Schnapp/Wigge, § 23 Rn. 121, 126), wenngleich daran für Leistungen nach dem SGB II angesichts dessen spezifischen Zielsetzung festgehalten wird (vgl. Rz. 81, 82). Ungeachtet dieser Unterschiede besteht nach wie vor ein Wertungsspielraum des Gerichts, in dessen Rahmen z. B. auch berücksichtigt werden kann, ob der Antragsteller die begehrte Leistung auf zumutbar anderem Wege erlangen kann (vgl. Rz. 98).
Rz. 90
Der unbestimmte Rechtsbegriff "zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint" in § 86b Abs. 2 Satz 2 erfordert eine Interessenabwägung nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls. Die bloße Besorgnis eines Eingriffs reicht dann aus, wenn diese erheblich ist; eine allgemein Ungewissheit genügt nicht (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 70. Aufl. 2012, § 940 Rn. 1). Ein Anordnungsgrund ist danach anzunehmen, wenn dem Antragsteller ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht zumutbar ist; dabei sind die öffentlichen Interessen jener der Verfahrensbeteiligten gegenüberzustellen. Insbesondere sind die Folgen abzuwägen, die mit dem Erlass bzw. dem Nicht-Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden sind. Einzubeziehen sind dabei u. a. die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Intensität einer drohenden (Grund-)Rechtsverletzung und sonstige unbillige Härten der Beteiligten. Die mit jedem Hauptsacheverfahren zwingend verbundenen zeitlichen Nachteile reichen für den Erlass einer Regelungsanordnung nicht aus (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 3.11.2011, L 3 KA 104/10 B ER). Drohen dem Antragsteller ohne die beantragten Leistungen existentielle Nachteile, die er aus eigener Kraft nicht abwenden kann und stehen dem seitens der Behörde "nur" finanzielle Nachteile gegenüber, wenn der Antragsteller im Hauptsacheverfahren mit seinem Begehren nicht durchdringen sollte, kann die Folgenabwägung für den einstweiligen Rechtsschutz sprechen. Dies gilt Insbesondere dann, wenn sich die finanziellen Nachteile dadurch in Grenzen halten, dass § 43 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des SGB II und SGB XII v. 24.3.2011 (BGBl. I S. 453) der Behörde Aufrechnungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, von denen sie im Falle seines Obsiegens in der Hauptsache Gebrauch machen kann, sofern der Antragsteller weiter im Leistungsbezug bleibt. Sollte der Antragsteller hingegen aus dem Leistungsbezug ausscheiden, kann die Behörde ihre Rückforderungsansprüche aus dem Arbeitslohn des Antragstellers realisieren (hierzu LSG NRW, Beschluss v. 2.8.2011, L 6 AS 751/11 B ER).
Rz. 91
Ob der vom Antragsteller behauptetet Anordnungsgrund vorliegt, bedarf einer genauen Prüfung. Trägt er vor, in seiner Existenz gefährdet zu sein, muss er eine entsprechende wirtschaftliche Situation glaubhaft machen und nachvollziehbar darlegen, dass diese – kausal – auf die angegriffene Maßnahme zurückzuführen ist, d. h. die Gründe für die behauptete Existenzgefährdung müssen geklärt sein (LSG NRW, Beschluss v. 27.11.1991, L 11 SKa 35/91, Beschluss v. 15.5.1996, L 11 SKa 21/96). Keinesfalls reicht es aus, wenn z. B. ein Vertragsarzt defizitäre Salden ausweisende steuerliche Bilanzen oder Gewinn- und Verlustrechnungen vorlegt. In der Regel muss hinzu kommen, dass er glaubhaft macht, interne personelle und organisatorische Effizienzsteigerungsmaßnahmen ausgeschöpft zu haben (vgl. LSG NRW, Beschluss v. 24.6.1997, L 11 SKa 20/97), unmittelbar von Insolvenz bedroht zu sein oder die Schließung oder doch nennenswerte Einschränkung seines Praxisbetriebs befürchten zu müssen (LSG NRW, Beschluss v. 18.7.1997, L 11 SKa 27/97; Beschluss v. 22.2.1996, L 11 SKa 55/95; im Ergebnis auch LSG Bayern, Beschluss v. 28.9.1994, L 12 B 189/94 Ka-VR; Beschluss v. 21.11.1995, L 12 B 211/95, MedR 1996 S. 93, 94; einschränkend: LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 14.10.1999, L 4 B 60/99 KA ER, Breithaupt 2000 S. 271). Macht der Antragsteller erhebliche Zahlungsverpflichtungen geltend, fehlt es am Anordnungsgrund, wenn diese nicht kausal durch den Betrieb der Arztpraxis entstanden sind (LSG Niedersachsen, Beschluss v. 16.10.1997, L 5 Ka 58/97 ...