Rz. 81
Sowohl bei der Sicherungs- als auch bei der Regelungsanordnung ist zu prüfen, ob ein Anordnungsgrund, d. h. die eine Eilbedürftigkeit begründenden und eine Anordnung erfordernden Umstände und ein Anordnungsanspruch, d. h. der materielle Anspruch, bestehen.
Im Anschluss an die Rechtsprechung des BVerfG zum einstweiligen Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfG, Beschluss v. 25.10.1988, 2 BvR 745/88, BVerfGE 79 S. 69; Beschluss v. 19.10.1977, 2 BvR 42/76, BVerfGE 46 S. 166) wurde unter der Geltung des früheren Rechts von den Sozialgerichten ganz überwiegend gefordert, dass dem Antragsteller schwere irreparable und unzumutbare Nachteile drohen. Die Rechtsprechung aus der Zeit vor Inkrafttreten des § 86b Abs. 2 durch das 6. SGGÄndG v. 17.8.2001 (BGBl. I S. 2144) mit Wirkung zum 2.1.2002 zur Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Anordnungsgrund dargetan ist (Sicherung eines verfassungsrechtlichen Mindeststandard i. S. einer "Existenzgefährdung"), kann nur noch eingeschränkt herangezogen werden (LSG NRW, Beschluss v. 23.12.2010, L 11 KA 54/10 B ER; Beschluss v. 23.11.2007, L 11 B 11/07 KA ER; Beschluss v. 22.5.2006, L 10 B 3/06 KA ER; Beschluss v. 9.7.2004, L 10 B 6/04 KA ER, GesR 2004 S. 418; Frehse, in: Schnapp/Wigge, § 23 Rn. 126). Setzt § 86b Abs. 2 i. d. F. des 6. SGGÄndG für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nunmehr (nur) voraus, dass ein wesentlicher Nachteil abgewendet werden soll oder die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers wesentlich erschwert werden könnte, so ist dies schon sprachlich weniger als die zuvor geforderten "schweren und unzumutbaren Nachteile" (Frehse,a. a. O. ). Demzufolge wird unter Geltung des SGG i. d. F. des 6. SGGÄndG vornehmlich darauf abgestellt, welche Intensität der abzuwehrende Eingriff in geschützte Güter (z. B. Art. 12, 14 GG) hat. Maßstab für die Eingriffsintensität sind vielfach die wirtschaftlichen Folgen in Bezug auf das geschützte Rechtsgut (vgl. LSG NRW, Beschluss v. 28.12.2010, L 11 KA 60/10 B ER; Beschluss v. 6.9.2010, L 11 KA 3/10 B ER, MedR 2011 S. 392; Beschluss v. 27.5.2008, L 11 B 6/08 KR ER, ZM 2008 Nr. 14 S. 81; Beschluss v. 23.11.2007, L 10 B 11/07 KA ER; Beschluss v. 12.2.2007, L 10 B 35/06 KA ER, MedR 2008 S. 108; LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 2.11.2009, L 11 KR 3727/09 ER-B, NZS 2010 S. 213; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 13.12.2007, L 5 ER 289/07 KR, ZM 2008 S. 72; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 13.12.2007, L 5 ER 289/07 KR, ZM 2008 S. 72).
Rz. 82
Andererseits wird im Anwendungsbereich des SGB II angesichts dessen spezifischer Zielsetzung deutlich restriktiver entschieden. Dort wird davon ausgegangen, dass wegen Art. 19 Abs. 4 GG in denjenigen Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten ist, in denen eine Entscheidung in dem grundsätzlich vorrangigen Verfahren der Hauptsache zu schweren und unzumutbaren, nicht anders abwendbaren Nachteilen führen würde, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht in der Lage wäre. Leistungen nach dem SGB II sollen das Existenzminimum sichern. Wird durch die seitens des Grundsicherungsträgers erbrachte Leistung der Bedarf nicht gedeckt, ist die Existenz des Hilfebedürftigen zeitweise nicht sichergestellt, wobei nicht jede Unterdeckung des Bedarfs zu einer Existenzbedrohung und damit zum Vorliegen eines Anordnungsgrundes führt. Erforderlich ist eine existentielle Notlage (so LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 6.10.2011, L 11 AS 146/11 B ER, L 11 AS 146/11 PKH; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 24.3.2009, L 5 AS 5/09 B ER). Einem Antragsteller ist es zumutbar, sein geschütztes Vermögen oder nicht anrechenbares Einkommen zur Vermeidung des Nachteils (Wohnungslosigkeit) verwerten, da dies nach einer zusprechenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren ausgeglichen werden kann (BVerfG, Beschluss v. 30.3.2007, 1 BvR 535/07, nicht veröffentlicht)
Rz. 83
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System dergestalt, dass sich die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (Anordnungsgrund) verringern und umgekehrt (LSG NRW, Beschluss v. 16.5.2011, L 11 KA 132/10 B ER; LSG Hessen, Beschluss v. 18.3.2011, L 7 AS 687/10 B ER; Beschluss v. 29.6.2005, L 7 AS 1/05 ER, info also 2005 S. 169; vgl. auch Rz. 93 a. E.). Je schwerer die mit der Versagung des begehrten Rechtsschutzes verbundenen Belastungen des Betroffenen wiegen, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG verlangt jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage...