Rz. 6
Die Frist nach § 87 Abs. 1 Satz 1 und 2 beginnt mit der Bekanntgabe des angefochtenen Verwaltungsakts. Bekanntgabe bedeutet bewusste und gewollte Übermittlung von Informationen durch die die Angelegenheit bearbeitende Behörde. Darunter fällt folglich nicht eine zufällige Kenntniserlangung des Betroffenen; in derartigen Fällen muss aber eine Verwirkung in Betracht gezogen werden.
Wird Klage erhoben, bevor eine wirksame Bekanntgabe erfolgt ist, so wird die Klage auch nicht mit der Bekanntgabe des Verwaltungsakts zulässig; die Klage kann nicht vorsorglich erhoben werden. Ohne wirksame Bekanntgabe existiert kein anfechtbarer Bescheid (siehe hierzu auch die Ausführungen von Peters/Sautter/Wolff, § 87 Anm. 1b, S. II, 3, 4; Zeihe, § 87 Rn. 3b und Leitherer, in: Meyer-Ladewig, § 87 Rn. 4c m. w. N.). Davon unberührt bleibt die Möglichkeit der Erhebung einer Nichtigkeitsfeststellungsklage.
Rz. 7
Wie im Einzelfall eine wirksame Bekanntgabe zu erfolgen hat, ist in erster Linie in § 37 SGB X geregelt, darüber hinaus in den je nach Sachgebiet einschlägigen Spezialnormen, den Zustellungsgesetzen (VwZG und Landesgesetze) und in Fällen mit Auslandsberührung in den maßgeblichen zwischenstaatlichen Regelungen einschließlich des EG-Rechts. Diese Regelungen bestimmen, ob die Bekanntgabe z. B. in schriftlicher Form zu erfolgen hat – so § 85 Abs. 3 Satz 1 für den Widerspruchsbescheid – oder ob gar eine förmliche Zustellung zu erfolgen hat. Etwaige Mängel bei der Bekanntgabe können nach § 8 VwZG durch den Nachweis des tatsächlichen Zugangs geheilt werden (vgl. auch § 8 LZG NRW). Ist nicht wirksam bekannt gegeben worden, läuft die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 nicht. Jedoch kommt eine Verwirkung in Betracht.
Im Übrigen schließen die gesetzlichen Regelungen eine Zustellung nicht aus. Es obliegt der Behörde zu überprüfen, ob sie eine Zustellung in geeigneten Fällen, z. B. bei wiederholtem Bestreiten des Zugangs eines Bescheids, nicht auch dann vornehmen sollte, wenn dies nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist. Dies liegt insoweit im Interesse der Behörde, als sie die wirksame Bekanntgabe im Bestreitensfall nachzuweisen hat (vgl. hierzu BSG, Urteil v. 21.12.2009, B 14 AS 63/08, FEVS 61, 513 ff.; BSG, Urteil v. 9.12.2008, B 8/9b SO 13/07 R, FEVS 60, 550 ff.; LSG Sachsen, Urteil v. 18.3.2010, L 3 AS 180/09, juris; LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 11.11.2009, L 6 V 3829/08, ASR 2010, 97; zur 3-Tagesfrist des § 37 Abs. 2 SGB X: BSG, Urteil v. 6.5.2010, SozR 4-1300 § 37 Nr. 1 = NJW 2011, 1099).
Rz. 8
Die Sonderregelungen in Sozialversicherungsabkommen verdrängen im Regelfall die sonst einschlägigen Normen (vgl. zum kanadischen bzw. damaligen polnischen SV-Abkommen: LSG Hamburg, Beschluss v. 9.4.1997, III Jbf 14/97; LSG Berlin, Urteil v. 30.4.1998, L 16 J 42/97). Zur Belehrung bei einer Auslandszustellung: BSG, Beschluss v. 15.6.2010, Breith 2010, 997).
Rz. 9
Kann keine wirksame Bekanntgabe festgestellt werden, so kann eine vorsorgliche Wiedereinsetzung nach § 67 gewährt werden (BSG, SozR 1500 § 67 Nr. 29; a. A. mit guten Gründen: Peters/Sautter/Wolff, § 87 1b, S. II/4). Sie steht dann unter der Bedingung des Fristversäumnisses.
Rz. 10
Ist der Verwaltungsakt mehreren Personen bekannt zu geben, so läuft die Klagefrist für jeden Adressaten getrennt. Das gilt grundsätzlich auch für notwendige Streitgenossen i. S. d. § 62 ZPO, siehe hierzu aber die Kommentierung zu § 74 Rn. 3. Die Klagefrist beginnt nur bei richtiger Rechtsmittelbelehrung gegenüber dem jeweils Betroffenen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 12.11.2010, L 1 KR 293/08, juris, Rn. 30; BSG, SozR 1500 § 87 Nr. 1; BSGE 37 S. 28, 31; BSGE 39 S. 223, 225).
Rz. 11
Folgende Sonderfälle sind zu beachten:
Prozessstandschaft
Im Falle einer Prozessstandschaft beginnt die Frist mit der Bekanntgabe an den materiell Betroffenen. Der Prozessstandschafter tritt nicht nur materiell in die Rechtsposition des Betroffenen ein, sondern auch prozessrechtlich (BSG, SozR 1500 § 81 Nr. 1). Trat er bereits im Widerspruchsverfahren als Prozessstandschafter auf, so läuft die Frist aber ab Bekanntgabe an ihn.
Rechtsnachfolge
Im Falle einer Rechtsnachfolge kraft Gesetzes, insbesondere im Erbfall, beginnt die Frist nicht neu für den Rechtsnachfolger zu laufen. War die Frist bei Eintritt der Rechtsnachfolge bereits verstrichen, ist Bindungswirkung i. S. d. § 77 eingetreten. Läuft die Frist noch, muss sich der Rechtsnachfolger die verstrichene Zeit anrechnen lassen. Es kann aber eine Wiedereinsetzung in Betracht kommen.
Folgebescheid
Ist ein Folgebescheid nach § 96 erteilt worden, ist eine Prüfung der Frist nicht mehr erforderlich. Die Klage ist durch die Einbeziehung zulässig. Etwas anderes kann allenfalls in einem Fall mit Drittbeteiligung gelten.
Wirksamkeit hängt von Genehmigung ab
Hängt die Wirksamkeit der Klageerhebung von einer Genehmigung ab, z. B. bei der Klage eines Geschäftsunfähigen, so wirkt die Genehmigung auf den Zeitpunkt der Klageerhebung zurück. Die Frist läuft nicht getrennt für denjenigen, der für di...