1 Allgemeines
1.1 Historie
Rz. 1
§ 87 Abs. 1 ist durch das 6. SGGÄndG vom 17.8.2001 (BGBl. I S. 2144, 2149) mit Wirkung zum 2.1.2002 neu gefasst worden. Die Klagefrist richtet sich seitdem nach der Bekanntgabe des Verwaltungsakts. Nach der Gesetzesbegründung handelt es sich nur um eine redaktionelle Anpassung, da der Begriff der Bekanntgabe auch die Zustellung umfasst (BT-Drs. 14/5943 S. 26 Begründung Teil B zu Art. 1 Nr. 35). Durch das SGGArbGÄndG v. 26.3.2008 (BGBl. I S. 444) sind die Sätze 3 und 4 eingefügt worden, bedingt durch die gleichzeitige Neueinfügung des § 85 Abs. 4, der die Voraussetzungen und die Form einer öffentlichen Bekanntmachung der Widerspruchsentscheidung bei ruhenden Massenwiderspruchsverfahren regelt. Die Klagefrist beträgt im Falle der öffentlichen Bekanntmachung ein Jahr, um so der Gefahr zu begegnen, dass die Betroffenen keine Kenntnis von der Entscheidung erlangt haben. Durch den in Satz 4 geregelten Fristbeginn soll sichergestellt werden, dass der Ort der Veröffentlichung sich nicht zuungunsten des Betroffenen auf den Fristablauf auswirkt (BT-Drs. 16/7716 S. 22 Begründung Teil B zu Art. 1 Nr. 14).
§ 87 Abs. 2 hatte der Gesetzgeber bereits mit Wirkung zum 1.1.2000 durch das GKV-GesundheitsreformG 2000 (BGBl. I S. 2626, 2651) geändert und den Fristbeginn an die Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids statt an dessen Zustellung geknüpft, nachdem § 85 Abs. 3 die Zustellung des Widerspruchsbescheids bereits seit dem 1.6.1998 nicht mehr vorschrieb.
1.2 Anwendungsbereich
Rz. 1a
Durch das SGGArbGÄndG v. 26.3.2008 (BGBl. I S. 444) hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 1.4.2008 vermehrt erstinstanzliche Zuständigkeiten auf die Landessozialgerichte übertragen, § 29 Abs. 2–4 (zum Sinn und Zweck vgl. die Kommentierung zu § 29 Rn. 4 f.). Auch das Bundessozialgericht wird zum Teil erstinstanzlich tätig, § 39 Abs. 2 und nach Sonderregelungen wie § 146 Abs. 6 Satz 4 SGB III. Soweit diese Gerichte in ihrer Funktion als Erstinstanz, also insbesondere als Tatsachengerichte, tätig werden, gelten die Verfahrensbestimmungen für den ersten Rechtszug (§§ 87-122). Umstritten ist lediglich, ob der Vertretungszwang des § 166 gilt (vgl. hierzu die Kommentierung zu § 39 Rn. 6).
2 Rechtspraxis
2.1 Geltungsbereich
Rz. 2
Die Vorschrift setzt das Vorliegen eines Verwaltungsakts voraus. Die Klagefrist gilt daher für alle Anfechtungsklagen, in isolierter oder kombinierter Form, sowie für Verpflichtungsklagen im Falle der Ablehnung des Antrags auf Vornahme eines Verwaltungsakts. Sie gilt dagegen nicht für andere Leistungsklagen und auch nicht für Feststellungsklagen, wobei Letzteres für einen Teilbereich in § 89 ausdrücklich geregelt ist. Mit einer Feststellungsklage darf allerdings nicht die Klagefrist umgangen werden. War das Begehren ursprünglich auf einen Verwaltungsakt gerichtet, so dass eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage hätte erhoben werden müssen, so kann eine mögliche Fristversäumnis nicht mit der Feststellungsklage unterlaufen werden. Die Feststellungsklage ist in derartigen Fällen subsidiär (ständige Rspr. des BSG, vgl. nur die Entscheidungen in BSGE 15 S. 282, 286; BSGE 43 S. 148, 150 f.; BSGE 46 S. 81, 84; BSGE 57 S. 184, 186; BSGE 58 S. 150, 152 f.; BSGE 73 S. 146, 147).
Zur Einhaltung der Klagefrist kann zunächst ausschließlich eine Anfechtungsklage erhoben werden und diese später um einen (reinen) Leistungsantrag erweitert werden. Wird der Leistungsantrag erstinstanzlich übergangen, so kann hierüber auch noch im Berufungsverfahren entschieden werden (so das LSG Berlin, Urteil v. 15.4.2003, L 14 AL 60/02, info also 2004 S. 65 f., im Fall einer Anfechtungsklage gegen einen Sperrzeitbescheid verbunden mit einer Zahlungsklage auf Arbeitslosengeld).
Rz. 3
Die Klagefrist gilt nicht für die Widerklage nach § 100, da diese auch noch in der Berufungsinstanz erhoben werden kann, § 153 (BSG SozR Nr. 3 zu § 100).
Rz. 4
Die Klagefrist muss dagegen im Fall einer Klageänderung gemäß § 99 Abs. 1 beachtet werden (BSG, SozR 1500 § 87 Nr. 6; BSG, Urteil v. 23.6.1998, B 4 RA 31/97 R; LSG BW, Urteil v. 18.10.2007, L 7 SO 4334/06). Die neue Klage muss alle allgemeinen Prozessvoraussetzungen und zusätzlich die besonderen Voraussetzungen der Klageänderung des § 99 erfüllen.
Eine Berichtigung des Rubrums bei einer falschen oder unvollständigen Bezeichnung eines Beteiligten ist jedoch nach Fristablauf noch möglich (BSG, Urteile v. 10.3.2011, B 3 P 1 und 2/10 R, juris). Ebenso wird ein Wechsel des/der Beklagten nach Fristablauf jedenfalls dann noch für zulässig erachtet, wenn der angefochtene bzw. begehrte Verwaltungsakt bereits bei Klageerhebung genau bezeichnet worden ist (BVerwG, SGb 1994 S. 77; VGH BW, DÖV 1982 S. 750; vgl. auch OVG Lüneburg, DÖV 1967 S. 637 und die Kommentierung zu § 99 Rn. 14 ff.).
Rz. 5
Eine Besonderheit stellt die Wahlanfechtungsklage nach § 57 Abs. 3 SGB IV (in der Fassung des Gesetzes v. 12.11.2009, BGBl. I S. 3710) dar. Obwohl es sich bei ihr um eine Feststellungsklage handelt, gilt für sie ebenfalls eine Klagefrist. Nach § 57 Abs. 3 Satz 2 SGB IV ist die Klage spätestens einen Monat nac...