2.1 Der ursprüngliche Verwaltungsakt/Klagegegner
Rz. 4
Hat ein Vorverfahren stattgefunden, richtet sich die Klage nicht gegen den Widerspruchsbescheid, sondern gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt, der mit dem Rechtsbehelf des Widerspruchs i. S. d. § 83 angefochten worden ist. Die Klage muss daher gegen die Behörde bzw. den Rechtsträger erhoben werden, welche(r) den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat. Das ist vor allem in den Fällen des § 85 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 von Bedeutung, in denen die Widerspruchsbehörde nicht mit der Ausgangsbehörde identisch ist. Ein durch den Widerspruchsbescheid abgeänderter Verwaltungsakt gilt weiterhin als Verwaltungsakt der Ausgangsbehörde. Das gilt selbst dann, wenn der Widerspruchsbescheid erstmals zusätzliche Regelungsgegenstände aufgreift (BSG, SGb 1969 S. 497 f.).
Rz. 5
Wird der Verwaltungsakt dagegen vollständig durch den Widerspruchsbescheid aufgehoben, ist er nicht mehr existent und kann daher auch nicht mehr Gegenstand der Klage sein. Zur isolierten Anfechtung eines Widerspruchsbescheids siehe Rn. 10 ff.
Der Gegenstand der Klage hängt darüber hinaus von dem Klageantrag ab. Wird nur ein Teil eines teilbaren Verwaltungsakts angefochten, so wird Gegenstand der Klage nur der angefochtene Teil des Verwaltungsakts in der Gestalt des Widerspruchsbescheids. Es muss sich allerdings um einen von dem restlichen Teil abtrennbaren Gegenstand handeln (vgl. z. B. BSG, Urteil v. 1.6.2010, B 4 AS 63/09 R, juris, oder BSG, Urteil v. 19.9.2008, B 14 AS 67/07 R, BSGE 101, 268; hierzu auch Rz. 22).
Der Klagegegenstand bestimmt sich auch dann nach § 95, wenn zunächst ohne Beachtung des Vorverfahrenszwangs nach § 78 nur der ursprüngliche Verwaltungsakt angefochten wird, die Erteilung des Widerspruchsbescheids später aber noch nachgeholt wird.
Rz. 6
Zu beachten ist außerdem, dass durch die Erteilung des Widerspruchsbescheids ein Verwaltungshandeln der Ausgangsbehörde ohne Charakter eines Verwaltungsakts seine Rechtsqualität ändern und zu einem Verwaltungsakt werden kann (BSG, Urteil v. 18.9.1997, 11 RAr 85/96, SozR 3-4100 § 34 Nr. 4 = Breithaupt 1998 S. 746; BSGE 49 S. 291, 292; BSG, Urteil v. 29.10.1992, 10 RKg 4/92, NZS 1993 S. 279; BVerwGE 41 S. 305, 307 f.; BVerwGE 78 S. 3, 5). Der Verwaltungsakt ist stets in der Form und mit dem Inhalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat, Gegenstand der Klage. Das gilt insbesondere auch, wenn im Widerspruchsbescheid noch Gründe nachgeschoben werden (LSG Thüringen, Urteil v. 9.5.2000, L 3 AL 116/99; siehe auch BSG, SozR 1500 § 95 Nr. 1 = 1200 § 34 Nr. 7 zur nachgeholten Anhörung).
2.2 Der Widerspruchsbescheid
Rz. 7
Widerspruchsbescheid ist der nach § 85 Abs. 2 und 3 von der Widerspruchsstelle erteilte förmliche Bescheid oder die öffentlich bekannt gegebene Allgemeinverfügung nach § 85 Abs. 4. Es kommt nicht darauf an, ob die Widerspruchsstelle zur Entscheidung über den Inhalt funktionell zuständig war (BSG, SGb 1969 S. 497 f.).
Wird ein Vortrag des Beklagten im Rahmen des Klageverfahrens, vor allem die Klageerwiderung, als Widerspruchsbescheid angesehen, was allenfalls bei Identität von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde in Betracht kommt (vgl. hierzu die Kommentierung zu § 78 sowie BSG, Urteil v. 25.4.2007, B 12 AL 2/06 R, Die Beiträge Beilage 2007 S. 240 ff. = SGb 2007 S. 353; BSG, Urteil v. 18.3.1999, B 12 KR 8/98 R, SozR 3-1500 § 78 Nr. 3; BSG, SozR 1500 § 78 Nr. 15), so tritt dieser Vortrag an die Stelle des Widerspruchsbescheids.
Rz. 8
Ändert der Widerspruchsbescheid den ursprünglichen Verwaltungsakt tatsächlich ab, so kann das Gericht nicht einfach den Verwaltungsakt in der ursprünglichen Gestalt bestätigen, da dieser nicht mehr existent ist und das Gericht auch nicht befugt ist, das Verwaltungshandeln zu ersetzen. Es kann die beklagte Behörde nur verpflichten, einen entsprechenden Verwaltungsakt zu erlassen (BSGE 8 S. 185, 192; BSGE 9 S. 282, 284; a. A. Leitherer, in: Meyer-Ladewig, § 95 Rn. 3f).
Rz. 9
Die Regelung des § 95 wirkt sich auf den für die Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt aus. So kommt es bei der reinen Anfechtungsklage grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, also den Zeitpunkt der Erteilung des Widerspruchsbescheids, an (vgl. z. B. LSG Bayern, Urteil v. 19.7.2011, L 8 SO 236/10, juris).
Eine Erweiterung des Streitgegenstands kann nicht dadurch zustande kommen, dass das Gericht entgegen der Rechtsansicht der Widerspruchsbehörde bereits bindend gewordene Bescheide nicht beachtet und deswegen weitere Ermittlungen anstellt. Daraus können sich daher auch keinerlei Auswirkungen auf die Prüfungspflicht der Berufungsinstanz ergeben (LSG Schleswig-Holstein, Urteil v. 7.10.1999, L 5 U 11/99 = HVBG-INFO 2000 S. 222).
2.3 Isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheids
Rz. 10
§ 95 geht von der Einheit des Verwaltungshandelns in Form eines Verwaltungsakts sowie eines Widerspruchsbescheids aus. Nicht vorgesehen ist damit der Fall einer selbständigen oder isolierten Anfechtung des Widerspruchsbescheids. Gleichwohl kommt eine selbständige Anfechtung des Widerspruchsbescheids in verschiedenen Fallgestaltungen in Betracht. Inso...