1 Allgemeines

 

Rz. 1

§ 95 regelt das Verhältnis zwischen dem ursprünglichen Verwaltungsakt, welcher mit dem Widerspruch angefochten worden ist sowie dem daraufhin ergangenen Widerspruchsbescheid, welcher gleichfalls den Charakter eines Verwaltungsakts hat. Die beiden Verwaltungsakte werden im Klageverfahren als eine Einheit zusammengefasst. Gegenstand der Klage ist der Ursprungsverwaltungsakt "in der Gestalt des Widerspruchsbescheids". Das wirkt sich unter anderem auf den richtigen Klagegegner aus.

 

Rz. 2

Nicht einheitlich beantwortet wird die Frage, ob die Regelung ausschließlich für Anfechtungsklagen gilt (so Peters/Sautter/Wolff, § 95 S. II/46) oder auch für Verpflichtungs- und Leistungsklagen (so Pawlak, in: Hennig, § 95 Rn. 2 und Leitherer, in: Meyer-Ladewig, § 95 Rn. 1). Für letztere Auffassung spricht der nicht auf die Anfechtungsklage begrenzte Wortlaut, der auch für alle Anfechtungsklagen eine Gestaltungsfunktion des Widerspruchsbescheids fingiert, unabhängig davon, ob der ursprüngliche Verwaltungsakt tatsächlich durch den Widerspruchsbescheid abgeändert worden ist oder nicht. Auch bei Erhebung einer Verpflichtungs- oder Leistungsklage kann ein den ursprünglichen Verwaltungsakt abändernder Widerspruchsbescheid vorliegen. Die unterschiedlichen Auffassungen entfalten zwar praktisch kaum Auswirkungen; jedoch ist auch nicht ersichtlich, weshalb auf die Einbeziehung von Verpflichtungs- und Leistungsklagen in den Anwendungsbereich verzichtet werden sollte.

 

Rz. 3

Der Begriff des Klagegegenstands i. S. d. § 95 ist nach h. M. nicht identisch mit dem Begriff des Streitgegenstands, der vor allem für den Umfang der Rechtskraft nach § 141 sowie für die Rechtshängigkeit nach § 94 maßgeblich ist (siehe hierzu auch Pawlak, in: Hennig, § 95 Rn. 23 m. w. N.).

§ 95 entspricht der Regelung des § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Die VwGO enthält darüber hinaus Regelungen über die isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheids, welche im SGG fehlen. Die diesbezüglichen Bestimmungen der VwGO sind jedoch entsprechend heranzuziehen (BSG, Urteil v. 23.2.1973, 3 RK 66/72, BSGE 35 S. 224, 226).

2 Rechtspraxis

2.1 Der ursprüngliche Verwaltungsakt/Klagegegner

 

Rz. 4

Hat ein Vorverfahren stattgefunden, richtet sich die Klage nicht gegen den Widerspruchsbescheid, sondern gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt, der mit dem Rechtsbehelf des Widerspruchs i. S. d. § 83 angefochten worden ist. Die Klage muss daher gegen die Behörde bzw. den Rechtsträger erhoben werden, welche(r) den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat. Das ist vor allem in den Fällen des § 85 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 von Bedeutung, in denen die Widerspruchsbehörde nicht mit der Ausgangsbehörde identisch ist. Ein durch den Widerspruchsbescheid abgeänderter Verwaltungsakt gilt weiterhin als Verwaltungsakt der Ausgangsbehörde. Das gilt selbst dann, wenn der Widerspruchsbescheid erstmals zusätzliche Regelungsgegenstände aufgreift (BSG, SGb 1969 S. 497 f.).

 

Rz. 5

Wird der Verwaltungsakt dagegen vollständig durch den Widerspruchsbescheid aufgehoben, ist er nicht mehr existent und kann daher auch nicht mehr Gegenstand der Klage sein. Zur isolierten Anfechtung eines Widerspruchsbescheids siehe Rn. 10 ff.

Der Gegenstand der Klage hängt darüber hinaus von dem Klageantrag ab. Wird nur ein Teil eines teilbaren Verwaltungsakts angefochten, so wird Gegenstand der Klage nur der angefochtene Teil des Verwaltungsakts in der Gestalt des Widerspruchsbescheids. Es muss sich allerdings um einen von dem restlichen Teil abtrennbaren Gegenstand handeln (vgl. z. B. BSG, Urteil v. 1.6.2010, B 4 AS 63/09 R, juris, oder BSG, Urteil v. 19.9.2008, B 14 AS 67/07 R, BSGE 101, 268; hierzu auch Rz. 22).

Der Klagegegenstand bestimmt sich auch dann nach § 95, wenn zunächst ohne Beachtung des Vorverfahrenszwangs nach § 78 nur der ursprüngliche Verwaltungsakt angefochten wird, die Erteilung des Widerspruchsbescheids später aber noch nachgeholt wird.

 

Rz. 6

Zu beachten ist außerdem, dass durch die Erteilung des Widerspruchsbescheids ein Verwaltungshandeln der Ausgangsbehörde ohne Charakter eines Verwaltungsakts seine Rechtsqualität ändern und zu einem Verwaltungsakt werden kann (BSG, Urteil v. 18.9.1997, 11 RAr 85/96, SozR 3-4100 § 34 Nr. 4 = Breithaupt 1998 S. 746; BSGE 49 S. 291, 292; BSG, Urteil v. 29.10.1992, 10 RKg 4/92, NZS 1993 S. 279; BVerwGE 41 S. 305, 307 f.; BVerwGE 78 S. 3, 5). Der Verwaltungsakt ist stets in der Form und mit dem Inhalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat, Gegenstand der Klage. Das gilt insbesondere auch, wenn im Widerspruchsbescheid noch Gründe nachgeschoben werden (LSG Thüringen, Urteil v. 9.5.2000, L 3 AL 116/99; siehe auch BSG, SozR 1500 § 95 Nr. 1 = 1200 § 34 Nr. 7 zur nachgeholten Anhörung).

2.2 Der Widerspruchsbescheid

 

Rz. 7

Widerspruchsbescheid ist der nach § 85 Abs. 2 und 3 von der Widerspruchsstelle erteilte förmliche Bescheid oder die öffentlich bekannt gegebene Allgemeinverfügung nach § 85 Abs. 4. Es kommt nicht darauf an, ob die Widerspruchsstelle zur Entscheidung über den Inhalt funktionell zuständig war (BSG, SGb 1969 S. 497 f.).

Wird ein Vortrag des Beklagten im Rahmen des...

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