Rz. 10
§ 95 geht von der Einheit des Verwaltungshandelns in Form eines Verwaltungsakts sowie eines Widerspruchsbescheids aus. Nicht vorgesehen ist damit der Fall einer selbständigen oder isolierten Anfechtung des Widerspruchsbescheids. Gleichwohl kommt eine selbständige Anfechtung des Widerspruchsbescheids in verschiedenen Fallgestaltungen in Betracht. Insoweit finden nach der ständigen Rechtsprechung des BSG die Regelungen des § 79 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 VwGO entsprechende Anwendung (BSGE 11 S. 119, 120; BSGE 35 S. 224, 226; SGb 1976 S. 150; SozR 3-1300 § 24 Nr. 14; einschränkend: SG Karlsruhe, Breithaupt 1999 S. 249 ff.). Auch durch die Änderung des § 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO durch das 6. VwGO-ÄndG hat sich insoweit keine neue Rechtslage für den sozialgerichtlichen Prozess ergeben (BSG, Urteil v. 25.3.1999, B 9 SB 14/97 R, SozR 3-1300 § 24 Nr. 14; a. A. SG Karlsruhe, Breithaupt 1997 S. 917 ff.).
Rz. 11
Ob im Einzelfall eine isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheids gewollt ist, muss im Zweifel durch Auslegung ermittelt werden. Das gilt besonders, wenn Zweifel am Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses für eine reine Anfechtungsklage gegen den Widerspruchsbescheid bestehen.
Eine isolierte Anfechtung des Widerspruchs ist grundsätzlich bei folgenden Fallgestaltungen denkbar:
- Es existiert kein ursprünglicher Verwaltungsakt (mehr).
- Der Widerspruchsbescheid enthält eine zusätzliche Beschwerde.
- Ein Dritter wird erstmalig beschwert.
Rz. 12
zu 1.: Der Widerspruchsbescheid kann selbständig angefochten werden, wenn kein ursprünglicher Verwaltungsakt vorhanden ist. Das kann entweder der Fall sein, wenn die Verwaltung und die Widerspruchsstelle das Fehlen der Verwaltungsentscheidung übersehen haben oder wenn der ursprüngliche Verwaltungsakt nicht mehr existiert, weil er vollständig aufgehoben worden ist. Will das Gericht in letzterem Falle der Klage stattgeben, so genügt es nicht allein, den Widerspruchsbescheid aufzuheben, denn der ursprüngliche Verwaltungsakt ist nicht mehr existent; zusätzlich ist daher eine Verpflichtung auszusprechen (BSGE 8 S. 185, 192; BSGE 9 S. 282, 284; BSGE 11 S. 119, 120; a. A. Leitherer, in: Meyer-Ladewig, § 95 Rn. 3f).
Rz. 13
zu 2.: Der Widerspruchsbescheid kann sowohl in formeller Hinsicht als auch in materieller Hinsicht im Vergleich zum angefochtenen Ursprungsverwaltungsakt eine zusätzliche Beschwer enthalten. In formeller Hinsicht kann der Widerspruchsbescheid eine zusätzliche Beschwer enthalten, weil er auf wesentlichen Verfahrensmängeln beruht oder weil durch ihn der Widerspruch ausschließlich aus formellen Gründen zurückgewiesen worden ist.
Auf eine Verletzung von Verfahrensmängeln kann sich der Kläger nach allgemeiner Auffassung aber nur dann berufen, wenn die verletzten Verfahrensregelungen auch seinem Schutz dienen sollen, z. B. alle Normen, die sich mit dem Schutz des rechtlichen Gehörs befassen wie Akteneinsichtsrechte. Ebenso gehört hierzu der Fall des erstmaligen Unterlassens einer erforderlichen Anhörung im Widerspruchsverfahren (BSG, Urteil v. 25.3.1999, B 9 SB 14/97 R, SozR 3-1300 § 24 Nr. 14; a. A. LSG Bremen, Breithaupt 1999 S. 252 ff.). Dabei muss zumindest die Möglichkeit bestehen, dass sich der Verfahrensmangel auf den Inhalt der Entscheidung ausgewirkt hat.
Rz. 14
Wird der Widerspruch aus rein formalen Gründen, d. h. als unzulässig zurückgewiesen, insbesondere wegen Verfristung, so ist im Rahmen der Begründetheit der Klage zu prüfen, ob der Widerspruch zulässig war (BSG, SozR 1500 § 87 Nr. 2). Stellt sich dabei die Zulässigkeit des Widerspruchs heraus, ist umstritten, ob das Gericht auch unmittelbar über die Begründetheit des Widerspruchs entscheiden darf (bejahend Pawlak, in: Hennig, § 95 Rn. 20). Es ist jedenfalls nicht daran gehindert, wenn die Widerspruchsstelle zusätzlich in der Sache entschieden hat (BSG, Urteil v. 15.9.1978, 11 RK 2/78, SozR 1500 § 87 Nr. 5).
Rz. 15
In materieller Hinsicht liegt eine zusätzliche Beschwer bei einer Verböserung (reformatio in peius) vor, d. h. bei einer Abänderung des ursprünglichen Verwaltungsakts zuungunsten des Klägers. Darüber hinaus kann eine zusätzliche Beschwer vorliegen, wenn bei der Widerspruchsentscheidung eine zwischenzeitlich zugunsten des Klägers eingetretene Rechtsänderung nicht berücksichtigt worden ist oder wenn der Widerspruchsbescheid zusätzliche Regelungen enthält, also den Streitgegenstand erweitert.
Rz. 16
zu 3.: Ein durch den Widerspruchsbescheid erstmalig beschwerter Dritter kann allein den Widerspruchsbescheid anfechten. Da der ursprüngliche Verwaltungsakt nicht in seine Rechte eingreift, hat er mit der Aufhebung des Widerspruchsbescheides sein Ziel erreicht. In einer solchen Fallkonstellation ist im Regelfall ein Verwaltungsakt mit Doppelwirkung streitgegenständlich. Damit die Klage eines Dritten, der nicht Adressat der angefochtenen Bescheide sein muss, als zulässig erachtet werden kann, muss der Dritte behaupten können, dass er durch den Widerspruchsbescheid in seinen Rechten verletzt wird. Er muss behaup...