1 Allgemeines

1.1 Historie, Sinn und Zweck

 

Rz. 1

§ 96 Abs. 1 ist durch das SGGArbGÄndG v. 26.3.2008 (BGBl. I S. 444) mit Wirkung vom 1.4.2008 geändert worden. Um der ausufernden Rechtsprechung zur (entsprechenden) Anwendung des § 96 zu begegnen, sollen nach der Neufassung nur noch solche Verwaltungsakte in das Verfahren mit einbezogen werden, die den bereits angefochtenen Verwaltungsakt abändern oder ersetzen (BT-Drs. 16/7716 S. 14 Begründung Teil A I zu Nr. 2b aa) und S. 22 Begr. Teil B zu Art. 1 Nr. 16). Zudem wird mit der Neufassung festgeschrieben, dass eine Einbeziehung auch dann erfolgt, wenn der neue Verwaltungsakt in dem Zeitraum zwischen Erlass des angefochtenen Widerspruchsbescheides und Klageerhebung ergangen ist.

In der VwGO existiert keine vergleichbare Regelung. Nach § 68 FGO ist eine Einbeziehung neuer Verwaltungsakte auf Antrag möglich.

§ 96 dient prozessökonomischen Zwecken (BSG, SozR 3-5425 § 24 Nr. 17). Ein zweites Verfahren zwischen den Beteiligten soll vermieden werden (BSGE 5 S. 158, 161; SozR 1500 § 96 Nr. 32). Stattdessen soll eine schnelle, erschöpfende Entscheidung über das gesamte Streitverhältnis getroffen werden (BT-Drs. 16/7716 S. 22 Teil B Art. 1 zu Nr. 16). Darüber hinaus soll die Regelung den Betroffenen vor Rechtsnachteilen schützen, die ihm dadurch entstehen könnten, dass er im Vertrauen auf ein bereits anhängiges Verfahren gegen neue Verwaltungsakte keine Rechtsmittel mehr einlegt (BSG, SozR § 96 Nr. 14; BSGE 50 S. 88, 90; so auch weiterhin die Begründung in der BT-Drs. a. a. O.). Schließlich sollen divergierende Entscheidungen vermieden werden (BSG, SozR 3-5425 § 24 Nr. 17 m. w. N.; BT-Drs. a. a. O.).

1.2 Rechtliche Einordnung

 

Rz. 2

Die Verwaltungsakte, welche § 96 erfasst, werden ohne weiteres Zutun kraft Gesetzes Gegenstand des Verfahrens. Es handelt sich damit um eine spezielle Form der Klageänderung. Auf den Willen der Beteiligten kommt es nicht an (vgl. BSG, Urteil v. 17.11.2005, B 11a/11 AL 57/04 R, SozR 4-1500 § 96 Nr. 4 = Breithaupt 2006 S. 792; Hessisches LSG, Urteil v. 19.10.2000, L 5 V 915/96). Erfolgt eine Einbeziehung nach § 96, hindert das die Beteiligten aber nicht, den Streitgegenstand im Rahmen ihrer Dispositionsbefugnis einzugrenzen, soweit ein abgrenzbarer Teil vorhanden sein sollte. Greift die Regelung des § 96 nicht ein, kommt eine Einbeziehung der neuen Verwaltungsakte aufgrund einer gewillkürten Klageänderung nach § 99 in Betracht (BSG, Urteile v. 31.7.2002, B 4 RA 3/01 R und B 4 RA 113/00 R; BSG, Urteil v. 7.2.1996, 6 RKa 42/95, SozR 3-2500 § 85 Nr. 12; BSG, Urteil v. 13.11.1996, 6 RKa 15/96, SozR 3-2500 § 85 Nr. 16; BSG, Urteil v. 20.3.1996, 6 RKa 51/95, BSGE 78 S. 98; LSG BW, Urteil v. 8.10.2003, L 5 AL 4132/02; a. A. Zeihe, § 96 Rn. 1e mit der Begründung, § 96 sei lex specialis). Ob die gewillkürte Klageänderung zulässig ist, richtet sich nach § 99 bzw. den allgemeinen Sachurteilsvoraussetzungen (siehe hierzu auch BSG, Urteil v. 24.6.2003, B 2 U 21/02 R, BSGE 91 S. 128 = SozR 4-2700 § 157 Nr. 1 und die Kommentierung zu § 99).

1.3 Anwendungsbereich

 

Rz. 3

Wird der angefochtene Verwaltungsakt bereits während des Vorverfahrens durch einen neuen abgeändert, so erfolgt die Einbeziehung des neuen Verwaltungsakts über § 86. Seit der Neufassung des § 96 Abs. 1 ab dem 1.4.2008 greift § 86 nicht mehr nach Erteilung des Widerspruchsbescheids bis zur Klageerhebung i. S. d. § 90. Ob in dem Zeitraum zwischen Erteilung des Widerspruchsbescheids und Klageerhebung § 86 oder § 96 Anwendung findet, war früher umstritten (BSGE 47 S. 28; BSG, Urteil v. 12.5.1993, 7 RAr 56/92, BSGE 72 S. 248; Zeihe, § 86 Rn. 2a und § 96 Rn. 1b; Leitherer, in: Meyer-Ladewig, 8. Aufl., § 96 Rn. 2). § 96 Abs. 1 legt nunmehr fest, dass eine Einbeziehung nach § 96 zu erfolgen hat.

 

Rz. 4

Auch im Berufungsverfahren findet § 96 über § 153 Abs. 1 Anwendung. Im Revisionsverfahren gilt die Sonderregelung des § 171 Abs. 2. Danach gilt ein neuer Verwaltungsakt i. S. d. § 96 aber als mit der Klage beim SG angefochten, wenn der Kläger durch den neuen Verwaltungsakt nicht klaglos gestellt wird oder dem Klagebegehren durch die Entscheidung des BSG in vollem Umfang genügt wird. Die Regelung fingiert nur die Anfechtung eines Verwaltungsakts unter den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 96; es findet keine Einbeziehung des Bescheids statt (BSG, Urteil v. 15.5.2002, B 6 KA 22/01 R, SozR 3-2500 § 72 Nr. 14). Im Revisionsverfahren ist von Amts wegen zu prüfen, ob in der Vorinstanz eine Einbeziehung nach § 96 zu Recht erfolgt ist (BSG, Urteil v. 9.12.2003, B 2 U 54/02 R, SozR 4-2700 § 160 Nr. 1). Ist dagegen eine Einbeziehung in der Vorinstanz unterblieben, so wird dies nur auf Rüge der Beteiligten überprüft, da die Bestimmung des Umfangs des Streitgegenstands ihnen obliegt (BSG, Urteil v. 9.12.2003, B 2 U 54/02 R, SozR 4-2700 § 160 Nr. 1; BSG, Urteil v. 26.3.1996, 12 RK 5/95, SozR 3-2500 § 5 Nr. 26). § 171 Abs. 2 ist entsprechend bei Nichtzulassungsbeschwerden anzuwenden (BSG, Beschluss v. 25.5.2005, B 11a/11 AL 187/04 B). Sobald das Verfahren wieder bei dem LSG anhängig ist, gelten wiederum die §§ 96, ...

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