Rz. 19
Problematisch ist es, welches Rechtsmittel einzulegen ist, wenn die anzufechtende Entscheidung der Art nach falsch bezeichnet ist (sog. inkorrekte Entscheidung). Im Prozessrecht ist allgemein anerkannt, dass die inkorrekte Form einer Entscheidung nicht zum Ausschluss eines sonst zulässigen Rechtsmittels führen darf; es gilt der Grundsatz der Meistbegünstigung (BVerwG, Beschluss v. 13.3.2002, 3 B 19/02, NJW 2002 S. 2262, 2263; BGH, Beschluss v. 3.11.1998, VI ZB 29/98, NJW 1999 S. 584; BGH, Beschluss v. 19.12.1996, IX ZB 108/96, NJW 1997 S. 1448; Schenke, MDR 2003 S. 136). Wegen des damit verbundenen Prozessrisikos kann der Betroffene wählen, ob er das durch die inkorrekte Form veranlasste oder das eigentlich zulässige Rechtsmittel einlegen möchte (BFH, Beschluss v. 24.1.2008, XI R 63/06, BFH/NV 2008 S. 606; BGH, Urteil v. 23.11.2007, LwZR 13/06, 12/06, 11/06). Allerdings darf durch den Grundsatz der Meistbegünstigung der dem korrekten Verfahren entsprechende Instanzenzug nicht erweitert werden, so dass die Revision gegen einen unzutreffend in die Form eines Urteils gekleideten Beschlusses keine Sachentscheidung des Revisionsgerichts erlaubt; sie führt entweder zur Zurückverweisung an das Beschwerdegericht, damit die bislang fehlende Beschwerdeentscheidung nachgeholt werden kann (BVerwG, Urteil v. 27.6.1968, VIII C 52.68, BVerwGE 30 S. 91, 98), oder zur Verwerfung als unzulässig, wenn die Voraussetzungen der im korrekten Verfahren möglichen Rechtsbeschwerde an das Revisionsgericht nicht vorliegen (BGH, Beschluss v. 5.7.1990, LwZR 7/89, NJW-RR 1990 S. 1483 m. w. N.). Der Grundsatz der Meistbegünstigung gibt dem Rechtsmittelgericht keine zusätzlichen Kompetenzen: Eine in der falschen Form getroffene Entscheidung enthebt das Rechtsmittelgericht nicht von der Prüfung der für das Rechtsmittel gegen die formal richtige Entscheidung geltenden Zulässigkeitsvoraussetzungen. Ein Rechtsmittel, das das SGG nicht kennt, ist stets nicht statthaft und als unzulässig zu verwerfen (LSG NRW, Beschluss v. 17.2.2011, L 5 KR 600/10 B ER).
Rz. 20
Wird also ein Beschluss als Urteil bezeichnet, stehen die Beteiligten vor der Frage, ob sie diese Entscheidung mit der Beschwerde oder Berufung angreifen sollen. Sie können nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung sowohl das gegen die richtige wie gegen die falsche Entscheidungsart statthafte Rechtsmittel einlegen (BSG, Urteil v. 9.2.1993, 12 RK 75/92, BSGE 72 S. 91; zum Grundsatz der Meistbegünstigung auch BSG, Urteil v. 8.9.1993, 14a RKa 9/92, SozR 3-5555 § 13 Nr. 1). Das Berufungsgericht muss in diesem Fall durch Beschluss entscheiden und zwar auch dann, wenn der Kläger das Berufungsrechtsmittel wählt.
Rz. 21
Verfehlt das SG hingegen die Urteilsform und entscheidet es durch Beschluss, kann das LSG auch dann nur durch Beschluss entscheiden, wenn Berufung eingelegt worden ist (LSG Niedersachsen, Beschluss v. 15.5.1995, L 8 S [Vs] 52/95, Breithaupt 1995 S. 735; OVG NRW, Beschluss v. 9.1.1974, III B 530/73, NJW 1974 S. 1102; hierzu Zeihe, SGG, vor § 143 Rn. 5b). Das Meistbegünstigungsprinzip (vgl. auch BGH, Beschluss v. 11.4.2002, IX ZB 101/02, NJW 2002 S. 2106; BVerwG, Beschluss v. 13.3.2002, 3 B 19/02, NJW 2002 S. 2262, 2263) führt auch nicht dazu, dass nunmehr eine unanfechtbare Entscheidung der Anfechtung unterliegt. Wird z. B. ein Vertagungsbeschluss entgegen § 172 Abs. 2 SGG als mit der Beschwerde anfechtbar bezeichnet, greift das Meistbegünstigungsprinzip nicht. Nichts anderes gilt, wenn das LSG statt durch Beschluss mittels Urteil entscheidet und die Revision zulässt; diese ist dann nicht bindend (BAG, Urteil v. 14.10.1982, 2 AZR 570/80, NJW 1984 S. 254; Leitherer, SGG, vor § 143 Rn. 14).